Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
einmal her?“, fragte er.
„ Ich bin aus Bellon zurück“, sagte Elsa, fürchtete aber, dass der Junge ihr nicht glaubte. Er sah sie misstrauisch an, sah ihr geradewegs in die Augen, als könne er die Abgründe sehen, die sich darin verbargen.
„ Sie weiß auch nicht, wo Ulissa steckt“, sagte Carlos, während er die Schnapsflasche unter der Theke verstaute.
„ Ich weiß nur, dass Ulissa ihre Verwandtschaft in Antolia geärgert hat“, erzählte Elsa, „so lange, bis man sie vor die Tür gesetzt hat.“
Ein kurzes Lächeln flog über das Gesicht des Jungen.
„ Es ist schon spät“, sagte Elsa. „Ich gehe jetzt besser nach Hause“
Sie trank den letzten Schluck aus und rutschte vom Hocker.
„ Warte mal!“, sagte Carlos. „Nikodemia, in meinem Zimmer liegt noch das Buch, das Ulissa mir geliehen hatte. Gib es Amandis, ich brauche es nicht mehr.“
Der Junge schaute Carlos erstaunt an – nur einen winzigen Moment lang. Vielleicht hatte sich Elsa diesen Gesichtsausdruck auch nur eingebildet, denn jetzt sagte er:
„ Natürlich.“
Er winkte Elsa, damit sie ihm ins Hinterzimmer folgte, was sie nur ungern tat. Dieser Junge hatte etwas an sich, das ihr Angst einjagte, und sie wollte nicht mit ihm alleine sein.
Das Hinterzimmer war stickig und düster, denn es war ein kleiner Raum mit einer niedrigen Decke, dessen einziges Fenster zu einem Hinterhof zeigte, der nicht größer war als das Kundenklo in Papa Wenslafs Laden.
„ Setz dich dahin“, befahl Nikodemia und zeigte auf eine Bank neben einem Tisch.
Dann schob er einen Teppich beiseite, öffnete eine Luke im Boden und kletterte eine Leiter in den Keller hinab. Kurze Zeit später kam er mit dem Buch zurück, das in ein Stück Stoff gewickelt war. Elsa streckte erleichtert ihre Hand danach aus, doch er gab es ihr nicht. Er legte es auf einen Schrank, den sie von ihrer Bank aus nicht erreichen konnte, schloss die Luke und schob wieder den Teppich zurück.
„ Bist du dir sicher, dass keiner den Schwindel bemerkt?“, fragte er.
Elsa wurde es heiß und kalt und sie wünschte sich aus diesem Zimmer, diesem Viertel und dieser ganzen Welt fort. Sie wollte nach Hause, wo ihr keiner jemals solche Fragen gestellt hatte.
„ Was für einen Schwindel?“
Nikodemia setzte sich neben sie auf die Bank und nun war sie eingeklemmt zwischen ihm, der Wand und dem Tisch.
„ Amandis ist eine kleine, harmlose Gans. Du bist vielleicht auch eine Gans, aber nicht harmlos. Das sehe ich an deinen Augen.“
Elsa wollte schlucken, doch ihr Mund war so trocken, dass es nicht ging. Dann versuchte sie, sich etwas Schlaues einfallen zu lassen, aber es kam nichts. Ihr Kopf war leer. Sie konnte nichts anderes tun, als den Jungen mit den schwarzen Augen anzustarren.
„ Du weißt, dass du ein Rabe bist?“, fragte er.
Elsa brachte es nicht fertig, es abzustreiten.
„ Erst seit ich hier bin“, sagte sie. „In Istland war ich normal.“
„ Sag niemandem, wo du herkommst!“, befahl er ihr. „Keinem Menschen! Außerdem warst du noch nie normal. Du bist auch nie geboren worden. Weißt du, wie Raben entstehen? Wenn ein Rabe stirbt, entsteht er in einer anderen Welt neu. Er ist einfach da. Er kann alt sein oder jung. Er hat kein Alter, er hat nur vergessen. Das macht ihn völlig wehrlos.“
„ Aber so bin ich nicht“, widersprach Elsa. „Ich bin in Istland geboren worden! Das weiß ich ganz genau!“
„ Kannst du dich daran erinnern?“
„ Natürlich nicht. Aber meine Eltern wissen, dass es so war.“
„ Deine Eltern wissen gar nichts! Sie wurden von dir getäuscht. Raben sind Täuscher!“
Elsa sah das Licht des Fensters in den Augen des Jungen funkeln. Kleine weiße Punkte waren es. Was sie hörte, mochte Elsa nicht, und Nikodemia mochte sie auch nicht. Sie wollte ihm nicht glauben.
„ Woher weißt du das alles?“, fragte sie.
Er beugte sich zu ihr vor.
„ Von Ulissa natürlich. Sie wird irgendwann zurückkommen und dann verschwinden wir von hier. Wusstest du, dass ihr Todfeinde seid?“
„ Ich und Ulissa?“
„ Ulissa ist eine Möwe“, sagte er. „Ihre ganze Familie besteht aus Möwen. Die Möwen und die Raben hassen sich.“
Elsa merkte, dass sie sich an der Tischdecke festhielt. Sie hatte ihre Hände in den Stoff verkrallt. Sie ließ die Decke los und legte die Hände auf ihren Schoß.
„ Warum? Was ist der Unterschied zwischen Möwen und Raben?“
„ Beide können in andere Welten gehen. Aber nur die Raben können sich verwandeln.
Weitere Kostenlose Bücher