Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
am Meer wanderte, flogen ihre Sorgen für eine Weile fort. Sie genoss es, dem Weg zu folgen, der sich zwischen windschiefen Bäumen hindurchschlängelte, und ganz in der Natur zu sein, so wie früher in Istland. Möwenschwärme flogen vom Wasser auf und stießen wieder hinab. Sie kreischten, der Wind donnerte und die See, die endlose und blaue, flüsterte Elsa zu, dass ihr Großes bevorstand. Was war Istland gegen diese Weite, diesen Duft, dieses Erlebnis, ganz woanders zu sein? Zum ersten Mal fühlte sich Elsa berauscht von all den Möglichkeiten, die scheinbar in ihr schlummerten. Hier am Kap spürte sie es. Sie lachte viel an diesem Tag und ließ sich von Leimsel erzählen, wie er einmal übers Meer gefahren war und die Tage unter Deck verbracht hatte, angewiesen darauf, dass man ihm regelmäßig den Eimer leerte, den er wider Willen und ohne Unterlass mit seinem Mageninhalt füllte.
„ Nie wieder!“, rief er. „Das Meer sieht schön aus, aber ich will es nicht mehr bereisen.“
Hier musste Elsa an Bolhin denken. Es war zu schade, dass sie nicht wusste, wie die Reise von Bolhin weiterging. Aber das Buch, das sie verloren hatte, konnte ja nicht das einzige seiner Art sein. Sie beschloss, nach einer Kopie des Romans zu suchen. Leider konnte sie sich nicht an den Namen des Schriftstellers erinnern, falls es überhaupt einen gegeben hatte.
Drei Tage, bevor Sistras Fest stattfand, begann es zu schneien. Dass der Schnee liegen blieb, war in Brisa ungewöhnlich. Hier war es meist sonnig und milde, auch im Winter, abgesehen von solchen Tagen, an denen eine dünne Eiskruste Hecken und Wege bedeckte. Am Vortag des Festes stapfte Elsa nun in Amandis’ wärmsten Schuhen und ihrem dickstem Umhang durch die weißen Gassen und stieg die Treppen hinab, erst in den mittleren Teil der Stadt, in dem sich der Rathaus-See befand, und von dort noch weiter hinab in die Ebene, wo der breite Fluss seine Kurve machte. Hier, am Ufer des Flusses, lagen die ärmsten Stadtteile Brisas. Ein kleiner Hafen zog die Seeleute an, weswegen man den Ort rund um den Hafen auch Matrosenviertel nannte. Hier befand sich einst ein großer Markt der Fischhändler. Der Markt war aber schon vor vielen Jahren an die Küste umgezogen, nur die Hallen standen noch. Großmarkt der Fischer wurden sie genannt, doch nicht Fische wechselten hier den Besitzer, sondern meist schlechte oder verbotene Waren. All das hatte Elsa von dem Kaufmann erfahren, der die frischen Meerestiere ins Haus der Relings lieferte und früher selbst einmal zur See gefahren war.
„ Alles, was sich an Gesindel und Unrat auf dem Meer herumtreibt, bleibt früher oder später am Großmarkt hängen. Alles, was dort unten ist, wollen wir anständigen Bürger gar nicht haben. Soll doch ein Hochwasser den Dreck ins Meer spülen, dann sind wir es los, das Pack!“, schimpfte er.
Das klang nicht ermutigend und doch wusste Elsa, dass kein Weg an diesem Ausflug zum Großmarkt vorbeiführte. Sie war jetzt schon über vier Monate von zu Hause fort. Auch wenn ihr Brisa mit seiner Schönheit und dem leichten Leben immer wieder den Atem nahm, war ihr dennoch klar, dass sie in großer Gefahr schwebte. Außerdem hatte sie Heimweh nach den kahlen Hügeln Istlands, nach dem stillen, grauen Himmel, dem eiskalten Regen und den krummen Bäumen ihrer Heimat. Sie wollte zurück zu Mama Puja und Papa Wenslaf. Selbst den Kramladen, den Wenslaf führte, vermisste sie. Ein bestimmtes Gefühl, ein vertrauter Geruch, die arglosen Stimmen ihrer Eltern – all das stieg in ihr auf, von Zeit zu Zeit. Dann hätte sie es gerne festgehalten, hätte sich am liebsten daran zurückgehangelt in ihre vertraute Welt. Doch es ging nicht. Es verschwand wieder und nicht mal ihr Spiegelbild konnte ihr glaubwürdig versichern, dass sie wirklich sie selbst war. Daher wollte sie Ulissa treffen. Wenn es stimmte, dass Ulissa genauso aussah wie sie, dann wollte sie herausfinden, warum das so war. Vielleicht kannte Ulissa einen Teil der Antwort.
Es war recht früh am morgen, als sie das Matrosenviertel erreichte. Tatsächlich hatte sie sich den Ort viel schlimmer vorgestellt. Die Häuser waren kleiner als in der Mittelstadt oder in den Felsengärten. Alles sah ärmer aus, zum Teil kaputt oder notdürftig in Stand gesetzt. Viele Hunde liefen umher, einer von ihnen hatte nur drei Beine. Eine alte Frau hing halb aus dem Fenster und schaute Elsa entgeistert an, als diese vorbeiging.
Der Großmarkt war nicht schwer zu finden, doch an
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