Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Ach ja, wir hatten ein paar Auseinandersetzungen“, antwortete Ulissa. Sie putzte sich die Finger an ihrer Serviette ab und blickte verträumt zwischen zwei Kerzenflammen hindurch. „Antolianer sind so engstirnig und fantasielos, mit denen muss man sich einfach streiten. Andererseits sehen sie sehr gut aus. In der Beziehung war Antolia der reinste Süßigkeitenladen: einer feiner als der andere. Mit Anbar habe ich mich am liebsten gestritten. Er hat so eine tolle Ausstrahlung, wenn er wütend ist.“
Elsa staunte über diese Einschätzung.
„ Seine Ausstrahlung wird unbeschreiblich sein, wenn er erfährt, was du hier machst.“
„ Ganz bestimmt!“, rief Ulissa und lachte. „Aber nun erzähl mir von dir! Da haben wir immer geglaubt, es gäbe nur einen einzigen Raben und plötzlich tauchst du auf. Ich möchte mal wissen, wie du an mein Gesicht geraten bist.“
Die Milch und Ulissas Fröhlichkeit taten ihre Wirkung: Elsas Herz war leichter geworden. Sie fühlte sich nicht mehr so hilflos und selbst Gaiuper verlor etwas von seinem Schrecken. So lange Ulissa hier war, konnte nichts Schlimmes passieren – diese Gewissheit tat gut und machte Elsa sogar hungrig. So nahm sie sich einen der Spieße, die auf ihrem Teller lagen, und biss in die gebratenen Stücke, die daran steckten. Was auch immer das war, was sie hier aß – Ei oder Gemüse oder gar Fleisch – es war zart und schmackhaft und von einer milden Schärfe, die am Gaumen kitzelte.
„ Ich dachte, ich wäre mit diesem Gesicht geboren worden“, sagte Elsa. „Zumindest habe ich es, seit ich fünf Jahre alt bin. Von der Zeit davor weiß ich nichts mehr.“
Ulissa wurde fast ernst, als sie das hörte. Sie schaute Elsa an und sagte dann:
„ Also seit ungefähr acht Jahren? Na so was!“
„ Kannst du dir vorstellen, woran das liegt?“
Hätte es Elsa nicht besser gewusst, sie hätte gedacht, dass Ulissa einer traurigen Erinnerung nachhing. Aber was sollte eine Erinnerung von Ulissa schon mit Elsa zu tun haben?
„ Ach nein“, sagte Ulissa nun und trank von dem Wein, den man ihr nachgeschenkt hatte. „Es war nur so eine verrückte Idee.“
Gaiupers Blick erschien Elsa noch lauernder als zuvor. Elsa beschloss, Ulissa noch einmal unter vier Augen danach zu fragen. Doch zu diesem Gespräch sollte es nie kommen. Einer der Diener, die an den Türen standen, bewegte sich. Es war nur eine kleine, schnelle Bewegung, doch Elsa bemerkte sie. Es war eine Bewegung, die ihr verdächtig vorkam und sie dazu veranlasste, sich zu ducken. Etwas flog über sie hinweg, etwas Zischendes, und es knallte leise, als es in die nächste Mauer einschlug.
Gaiuper und Ulissa sprangen gleichzeitig auf. Während sich Gaiuper umdrehte, um den Attentäter ausfindig zu machen, warf sich Ulissa über Elsa. Elsa wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie spürte Ulissas schützende Arme und hörte dann ein schreckliches Geräusch. Es war ein Geräusch, das Elsa später noch oft in ihren Träumen hörte, etwas wie ein Spritzen, ein dumpfer Knall und gleichzeitig etwas Berstendes. Wenn es überhaupt ein Geräusch war und nicht eine Sinnestäuschung, die auf Gefühlen beruhte, die sie nicht anders fassen konnte. Vielleicht hatte das zweite Geschoss, das Ulissa soeben getroffen hatte, überhaupt kein Geräusch gemacht. Doch drang es nun auf grausame Weise in Ulissa ein und vergiftete ihre Lebensgeister in kürzester Zeit. Sie sank hinab. Elsa versuchte sie aufzufangen und festzuhalten. Dabei sah sie Ulissas Gesicht, das einen bläulichen Schimmer bekommen hatte, und ihre Augen, die aufgehört hatten zu strahlen. Langsam wurden sie trübe und leer. Doch Ulissa war noch bei Bewusstsein, ihre Finger hielten sich an Elsas Kleid fest.
„ Ein Arzt!“, rief Elsa. „Holt schnell einen Arzt!“
Sie schaute auf und erschrak über das, was sie sah. Die Diener an der Tür hatten den Attentäter erfasst und drückten ihn zu Boden. Gaiuper stand neben ihnen und machte ein zufriedenes Gesicht.
„ Alles in Ordnung, wir haben die Situation im Griff“, sagte er zu Elsa und erlaubte sich dazu ein Lächeln.
„ Aber Ulissa! Sie stirbt!“
„ Das trifft sich gut“, sagte Gaiuper, „sonst hätte ich selbst nachhelfen müssen. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, denn du bist hier. Ich brauche sie nicht mehr.“
Bei diesen Worten zog er sein Schwert und beendete ohne viel Aufhebens das Leben des Attentäters. Elsa fürchtete, dass der Attentäter der antolianische Spion war, den Anbar erwähnt hatte.
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