Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Vogelmädchen am Fenster sitzen und ihr von Istlands grünen Hügeln erzählen. Dabei vermied sie es, den Namen ihrer Heimat zu nennen. So wie es Nikodemia ihr geraten hatte.
„ Grün war hier schon lange nichts mehr“, sagte Sinhine dann. „Bulgokar ist hart und vertrocknet. Ich verstehe, dass du Heimweh hast.“
Gaiuper war meistens verreist. Es hieß, er sammle Krieger und verstreute Rabendiener. Wenn er mal in der Festung war, rief er Elsa zu sich, um ihr zu erklären, was er plante.
„ Wenn du stark geworden bist“, sagte er, „werden wir ausziehen und uns den Vogel holen, den die Möwen gefangen halten. Für das, was sie dem Raben angetan haben, werden sie bezahlen.“
Elsa dachte an Sistra und Amandis und auch an Leimsel. Sie wollte nicht, dass ihnen Leid zugefügt wurde.
„ Wir könnten den Vogel heimlich stehlen“, schlug sie vor.
„ Wie stellst du dir das vor? Den Käfig in die Hand nehmen und gehen?“
„ Ja, schon.“
„ Der Käfig ruht in einem Netz aus Sicherheitsvorkehrungen. Du musst ihn nur berühren und bekommst es mit einer Armee von Möwen zu tun!“
„ Aber Sistra hat den Käfig häufig berührt. Sie hat sogar die Tür aufgemacht.“
„ Weil sie wusste, wie man die unsichtbaren Schlösser umgeht. Wir wissen es nicht.“
„ Habt ihr denn keinen Spion im Haus der Relings? Ich dachte, jeder spioniert hier für jeden.“
„ In das Haus der Relings kommt man nicht so leicht. Selbst wenn wir jemanden dort hätten, würden wir wohl kaum erfahren, wie man den Käfig an sich nehmen kann, ohne in einen Kampf verwickelt zu werden. Aber wir müssen die eitlen und verkommenen Möwen nicht fürchten. Sie sind schwach geworden im Laufe der Jahrhunderte. Sie feiern lieber Feste als zu kämpfen und preisen den Prunk. Wir lassen ihnen Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir ihnen vor Augen führen, wie klein sie geworden sind. Der letzte Rabenkrieg ist einhundertsiebzig Jahre her. Der Frieden hat die Möwen weich gemacht, aber wir sind härter denn je.“
„ Dann hättet ihr den Vogel doch schon früher stehlen können.“
„ Wenn wir gewusst hätten, wo er ist, hätten wir das getan. Doch die Frau, die den Vogel besitzt, hat uns immer wieder getäuscht.“
„ Sistra?“
„ So heißt sie.“
„ Glaubt sie immer noch, dass du Ulissa gefangen hältst?“
„ Nein. Ich habe ihr Ulissas Kopf geschickt, damit sie sich von deren Ableben überzeugen kann.“
„ Ulissas Kopf …“
„ Kein Grund, sich aus der Ruhe bringen zu lassen.“
„ Weiß Sistra, dass ich hier bin?“
„ Das, meine Liebe, weiß niemand.“
Abgesehen von solch wenig erfreulichen Auskünften war es stets gemütlich in Gaiupers Räumen. Sie waren karg eingerichtet, doch von Kerzenlicht erleuchtet, von Feuer erwärmt und von Würde durchdrungen. Es herrschte Sinn in dieser Luft, die Gaiuper umgab. Denn er wusste genau, was er wollte und hatte für Elsa einen klaren Weg im Auge. Anfangs hielt sie seine Visionen für seltsam, doch je länger sie den Schlägern ausgesetzt war, desto reizvoller erschien ihr die Möglichkeit, unbegrenzt frei und stark zu werden. So lauschte sie Gaiuper, wenn er ihr beschrieb, wie Elsa gemeinsam mit ihren Dienern die Welten durchschreiten, die Anhänger hinter sich sammeln und die Feinde niederschlagen werde. Wie sie den Schlüssel erobern werde, der ihr das Tor zu Kundrien öffnete, sodass sie den endgültigen Heimweg antreten könnte in die Alte Welt, in der ihr Rabenherz begraben lag. Dort, in der Ursprungswelt, aus der alle anderen Welten hervorgegangen waren, würde sie ihr Herz zurückgewinnen und auf diese Weise alles vernichten, was nicht mit ihr verbunden war. Auch Kundrien selbst. Sobald es keine Erden mehr gäbe, würde sie in den Himmel zurückkehren, gemeinsam mit ihren Dienern.
„ Denn die Rabendiener werden in ihrer Herrin aufgehen“, erklärte Gaiuper. „Sie werden selbst Rabe werden und an ihrer unendlichen Freiheit teilhaben. Im schwarzen Universum wird die Rabenherrin die Unendlichkeit bewandern und sich von ihrer Grenzenlosigkeit ernähren! Sie wird nach Belieben schöpfen und zerstören, leuchten und erlöschen, in unantastbarer Selbstgenügsamkeit!“
Wenn er so sprach, war es Elsa, als ob die Welt rundum den Atem anhielt, um still zu lauschen. Etwas Kühles bedeckte dann auf einmal Elsas Haut, ihr Haar, ihre Augen. Als könnte es tatsächlich wahr werden, was Gaiuper da verkündete. Nun war es nicht so, dass Elsa jemals von unantastbarerer
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