Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Selbstgenügsamkeit geträumt hätte. Eigentlich wollte sie nur mit den Krähen fliegen. Andererseits war ihr Leben schwer geworden und das schien der natürliche Lauf der Dinge zu sein. Feinde waren plötzlich wie Pilze aus dem Boden geschossen, hatten Elsa umringt, sie bedrängt und drohten nun, sie zu ersticken. Es blieben ihr nur zwei Möglichkeiten: erstickt zu werden oder sich über die Pilze zu erheben, so wie es Gaiuper für sie geplant hatte. Und da weit droben über den Pilzen unbegrenzte Freiheit herrschte und sie dann vielleicht auch wieder mit den Krähen fliegen könnte, wie sie wollte, wenn auch auf andere Weise – war es da nicht verlockend, sich Gaiupers Ideen zu öffnen? Da ihr doch sowieso nichts anderes übrig blieb?
Wenn Elsa nach solchen Abenden, die sie in Gaiupers Gesellschaft verbracht hatte, in ihr Zimmer ging, dann kam sie sich sehr erwachsen vor. Ihre Gefühle waren abgekühlt, sie selbst ruhig und wissend. Kroch sie aber unter ihre Bettdecke und löschte das Licht, wollte sie schon nicht mehr erwachsen sein. Dann wanderte sie zurück in der Erinnerung, zurück in Mama Pujas Küche. Sie saß wieder auf dem Stuhl mit dem grünen Kissen und sah zu, wie Puja Wurstbrote machte und sie in weißes Papier verpackte. Morgens, wenn es draußen noch dunkel war und die Scheiben beschlagen waren, trank Elsa in Pujas Küche dünnen Filterkaffee und beobachtete die Zeiger der Uhr, die langsam auf fünf vor sieben krochen. Jetzt musste Elsa ihren Mantel anziehen, sich die Schultasche umhängen und ihren Schulweg antreten, durch Matsch und Regen und Pfützen, bis es dämmerte und sie in die mollig warme Heizungsluft der Schule trat. Unterrichtsstunden zogen vor Elsas innerem Auge vorüber und sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie früher mal Angst vorm Mathelehrer gehabt hatte. Er war doch nur ein grimmiger alter Mann ohne Vogelaugen und Schwert. Mittagspause irgendwann, Erbsensuppe aus tiefen Tellern, Getuschel, Gemurmel und Gelächter und Elsa mitten darin. Zwar schaute sie mehr zu, als dass sie wirklich dazugehörte, doch war sie geborgen im Vertrauten. Weiter als bis zur Mittagspause kam Elsa selten. Denn sie war immer so müde von all den Lektionen der Schläger, dass ihr die Augen zufielen, sobald sie im Dunkeln lag und schlafen durfte. Schon halb im Traum schrieb sie die Hausaufgaben in ihr rotes Hausaufgabenheft und hielt es ganz fest, als ein Schwarm wilder Vögel kam und es ihr zu entreißen versuchte.
Es gab aber auch Nächte, da wollten sich die Erinnerungen an Istland nicht einstellen. Dann überwog die Angst und sie konnte weder schlafen noch überhaupt an etwas Schönes denken. In solchen Nächten tastete sie immer wieder nach dem Reif, der um ihren Hals lag. Nach wie vor hinderte er sie daran, sich zu verwandeln oder diese Welt zu verlassen. Sie musste ihn loswerden, doch sie wusste nicht, wie. Immer wieder dachte sie an Ulissas letzte Worte:
„ Das ist nur ein Trick“, hatte sie gesagt. „Gib ihm nach …“
Elsa probierte es mit allen Mitteln. Sie versuchte zu vergessen, dass es den Reif gab. Sie versuchte ihn zu biegen oder zu dehnen, versuchte, den Ring als Teil von sich selbst zu sehen und sich mit ihm zu verwandeln. Sie bearbeitete ihn mit Feuer, Messern, Feilen, Pulvern und Ölen, doch nichts half. Sie wurde ihn nicht los. Die vergeblichen Versuche quälten sie nur und so fasste sie eines Nachts den traurigen Entschluss, aufzugeben. Sie würde einfach tun, was die Diener von ihr verlangten, so lange, bis sie glaubten, sie sei ihnen treu ergeben. Dann würden die Diener den Reif entfernen, weil sie nicht mehr an ihrer Überzeugung zweifelten. Sie aber würde ihre Freiheit nutzen und weglaufen, so weit weg, dass kein Rabendiener sie jemals wiederfinden würde.
Elsa hatte einen persönlichen Diener, einen neunjährigen Jungen namens Hoppier. Sie mochte seine Fröhlichkeit, denn er schien gepanzert zu sein gegen düstere Rabenlehren und wagte freche Widerworte gegen die Schläger. Elsa erzählte Sinhine, dass sie sich um Hoppier Sorgen machte. Aufmüpfige Diener wie er lebten gefährlich.
„ Hoppier doch nicht“, sagte Sinhine. „Der steht unter Teggas Schutz.“
Tegga war der Anführer der Schläger. Elsa sah ihn immer nur von weitem und nach allem, was sie über ihn gehört hatte, war sie froh darüber.
„ Warum?“, fragte sie.
„ Man sagt, Tegga sei sein Vater“, flüsterte Sinhine.
„ Oh!“, sagte Elsa. „Na dann.“
Sie musste an dieses
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