Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
fühlte, war große Hilflosigkeit. Es gab nichts für sie: keinen Heimweg und kein Paradies. Was sollte sie bloß mit sich anfangen? Wohin sollte sie gehen?
„ Bei uns in Antolia“, sagte Leimsel nun, „da gab es mal einen Mann, der in einem Bergwerk verunglückt ist. Er war lebendig begraben und niemand konnte ihm mehr helfen. Aber irgendwie hat er es geschafft, unter einem ganzen Gebirge hindurchzukriechen und wieder ans Tageslicht zu gelangen. Man nennt ihn den Grubenmann. Immer wenn jemand in einer aussichtslosen Situation steckt und einem nichts mehr einfällt, was man diesem Menschen noch wünschen könnte, weil man keine Hoffnung für ihn hat, dann sagt man in Antolia: Halte dich an den Grubenmann! So leid mir das tut, Mädchen, ich weiß dir nichts Besseres zu wünschen. Halte dich an den Grubenmann und tu es möglichst weit weg von hier.“
Elsa starrte Leimsel an und konnte nicht ermessen, ob sie besser oder schlechter dran war, als lebendig begraben zu sein. Vermutlich besser, aber das Birra in ihrem Kopf hinderte sie an einer klaren Einschätzung.
„ Bringst du mich zur Treppe, Leimsel?“
„ Ich werde einen Umweg nehmen“, sagte er und drehte das Boot, indem er nur ein Ruder bewegte. „Denn dort hinten sitzen Edon Weiss und Ega Miss. Wenn sie dich sehen, wissen sie sofort Bescheid. Nimm dich vor ihnen in Acht. Sie sind Möwen, aber sie interessieren sich auch für das Verfahren der Ausgleicher, mit dem man Raben für immer aus den Welten schaffen kann.“
Er setzte das Boot in Bewegung und ruderte geschickt durch eine Ansammlung von anderen Booten hindurch. Elsa sah vorsichtig in die Richtung, in der Edon und Ega sitzen sollten, konnte sie aber nicht erkennen.
„ Dieses Verfahren – wie geht das?“
„ Es beruht auf der Annahme, dass Raben keine göttliche Natur haben, wie es die Möwen annehmen, sondern ursprünglich menschlich waren und damit eine sterbliche Vergangenheit besitzen. Diesen Ursprung oder Kern spürt das Verfahren auf und tötet ihn, sodass der Rabe für immer vergeht.“
„ Das funktioniert?“
„ Es wurde noch nie ausprobiert, denn das Verfahren wurde erst in den letzen fünfzig Jahren entwickelt. Aber alles, was ich darüber gelesen habe, klang sehr überzeugend. Hätte dich Anbar ausgeliefert, so wie es seinem Auftrag entsprach, dann wüssten wir jetzt, ob es klappt.“
„ Tja, dann wüssten wir es wohl … sag, Leimsel, kennst du einen Romer? Sein Großvater war ein Antolianer, aber er ist hier in Sommerhalt aufgewachsen.“
„ Nein, so jemanden kenne ich nicht.“
„ Sicher?“
„ Ja, auch wenn es dich enttäuscht. Sieh dich vor, wenn du aussteigst. Auf der Treppe sitzen eine Menge Leute, die sollten nicht unbedingt dein Gesicht sehen.“
Elsa zog sich den Schal über den Kopf. Sie hatten die Anlegestelle schon fast erreicht.
„ Danke, Leimsel. Ich dachte übrigens, du wärst viel älter.“
„ Ich bin auch alt. Aber wir Bewohner der Hochwelten werden älter als andere. Wir halten uns sehr gut.“
„ Hochwelten?“
„ Ja, die aufgeklärten Welten, deren Mittelpunkt Antolia ist. Das hier“, er zeigte auf die Grotte ringsum, „ist für sie finsterste Geschichte. Hier kann man erstochen werden oder an einer Seuche sterben. So etwas gibt es in den Hochwelten schon lange nicht mehr.“
„ Tatsächlich?“
Das Boot kam in Reichweite der Gäste, die sich unterhalb der Treppe drängten. Sie johlten und sprangen in mutigen Sätzen zu Elsa und Leimsel ins Boot, das daraufhin heftig schaukelte. Leimsel tat sein Bestes, um das Boot noch näher an den Steg heranzurudern, damit Elsa aussteigen konnte, ohne ins Wasser geschubst zu werden.
„ Langsam, Leute!“, rief er lachend.
Jemand bot Elsa eine Hand an, die sie dankbar ergriff, und schon wurde sie emporgezogen. Sie sah sich noch einmal nach Leimsel um, der ihr kurz zunickte und dann mit kräftigen Ruderschlägen das überfüllte Boot aufs Wasser zurücklenkte. Elsa aber schob sich durch die Gäste und stieg langsam die Treppe hinauf. Rechts und links von ihr saßen Menschen, die mit Händen und Füßen redeten, da es zu laut war, um das eigene Wort zu verstehen. So viele Stimmen, so viel Gelächter und doch war sie allein. Es gab keine Möglichkeit, einem dieser Menschen auch nur ein wenig näher zu kommen. Sie war und blieb eine Außenseiterin. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie selbst schuld daran war. Wenn Leimsel recht hatte, dann war sie vor langer, langer Zeit eine Sterbliche gewesen, die
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