Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
Vom Netzwerk:
sich an die Unendlichkeit verkauft hatte. Eine schön blöde Idee. Hatte sie doch dazu geführt, dass Elsa von allen Sterblichen gehasst wurde.
    Endlich erreichte sie das obere Ende der Treppe. Als sie in die Nacht hinaustrat, standen dort viele Menschen, die sich unterhielten und ein dunkles Getränk herumreichten, das in einem Kessel über einem Feuer köchelte und dampfte. Immer noch funkelte der Himmel, immer noch leuchtete die Stadt. Es war angenehm warm. Elsa suchte sich einen Platz an der Felswand und setzte sich dorthin, zwischen viele andere Leute. Sie musste nachdenken und sich ausruhen. Der Ausblick tröstete sie darüber hinweg, dass sie weder Romer noch das Buch noch Hilfe gefunden hatte. Fast gelang es ihr, die Sorgen zu vergessen und in der Schönheit der Nacht zu versinken. Aber eben nur fast. Tatsächlich war sie niedergeschlagen und das Gefühl kam immer wieder hoch, genauso wie der Fischgeschmack aus ihrem Magen.
    Sie saß noch nicht lange dort, als eine Gruppe von Menschen an ihr vorüberging, die sich laut unterhielt. Im Widerschein des Feuers, das unter dem Kessel flackerte, erkannte Elsa den Mann, vor dem sie gewarnt worden war: Edon Weiss mit den buschigen, schwarzen Augenbrauen und dem großen Nussknackerkinn. Sie hörte ihn sagen:
    „ Meine Aufgabe ist das nicht! Entweder findet sie es selbst heraus oder ihr Rang ist fragwürdig.“
    „ Wir sollten das nicht hier draußen verhandeln“, sagte ein anderer Mann.
    Was sonst noch gesprochen wurde, hörte Elsa nicht mehr, denn die Gruppe war vorübergegangen. Aber sie hatte den Eindruck, dass das Gespräch etwas mit ihr zu tun hatte. Die Möwen waren schließlich ihre Feinde und was die Feinde miteinander beredeten, ging Elsa bestimmt etwas an. Es mochte an ihrer Ratlosigkeit liegen, dass sie sich von dieser Gruppe angezogen fühlte. Als sei es überlebenswichtig, dass sie die Möwen verfolgte und belauschte. Womöglich erfuhr sie etwas, das ihre Situation, ihr Leben, ihre ganze Existenz in einem anderen Licht erscheinen ließ? Es war nicht mal so, dass sie den Beschluss fasste, Edon Weiss und die anderen auszuspionieren. Sondern sie tat es einfach, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
    Im Schutz der Dunkelheit wurde sie kleiner und immer kleiner. Die Gestalt einer Amsel erschien ihr praktisch. Ein Rabe wäre zu groß und zu auffällig gewesen. Sie ließ der Gruppe noch einige Zeit Vorsprung, dann löste sie sich aus den Schatten und flog in einiger Höhe über den Weg hinweg. Es war gar nicht schwer, die Möwen wiederzufinden und ihnen unauffällig zu folgen. Sie hielt Abstand, flog voraus, machte Pausen, bis die schweigenden Spaziergänger näherkamen. Schwieriger wurde es erst, als Edon und die anderen die steilen Treppen zur Mittelstadt hinabgestiegen waren und in das Labyrinth aus Gassen und Sträßchen traten, in dem man sich leicht verlaufen konnte. Die Amsel flatterte von einem Dach zum nächsten und strengte sich an, in Deckung zu bleiben. Schließlich verschwanden die Fußgänger in einem Haus, tauchten aber im Innenhof wieder auf, wo sie einen verwilderten Garten durchquerten und eine unter Buschwerk verborgene Treppe hinabstiegen, die in einen Keller führte. Die Tür des Kellers fiel ins Schloss, dann war es sehr still in dem Garten unter den Sternen.
    Die Amsel flog zur Treppe und sprang die Stufen hinab, bis sie den leuchtenden Spalt erreichte, der sich unter der Tür befand. Elsa hatte es noch nie gewagt, die Gestalt eines gefährlich lebenden Insekts anzunehmen. Doch nichts anderes passte unter dem Türspalt hindurch und so dachte Elsa nicht lange nach, sondern wurde sofort zu einer dünnhäutigen Motte, die flatternd und tänzelnd unter der Tür hindurchspazierte. Es zeigte sich, dass Motten tun, was sie wollen, ganz gleich, ob sie in Wirklichkeit Raben sind oder nicht. Der Verstand der Motte war so winzig, dass Elsa keinen Einfluss darauf nehmen konnte. Nicht mal mehr nachdenken konnte sie, so unbestimmt war der Geist des Insekts. Die Motte flog nun zur Lampe, die von der Kellerdecke hing und verbrannte sich fast die Flügel. Worüber die Menschen redeten, die unter ihr um einen Tisch versammelt saßen, das wusste sie nicht und es war ihr auch vollkommen gleichgültig. Sie wurde nur angezogen von der Flamme, die in einem Glasbehälter brannte. Schließlich aber, als es ihr zu warm wurde und sie das Gefühl hatte, dass irgendetwas nicht stimmte, flog sie quer durch den Raum und um die Ecke in ein dunkles Zimmer.

Weitere Kostenlose Bücher