Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
wollte mit dem Mädchen durch die Welten ziehen, dessen großartiges Gesicht du mit dir herumträgst, obwohl es dir nicht annähernd so gut steht. Aber dafür ist es ja nun zu spät. Also, gehen wir.“
„ Nein, nein“, widersprach Elsa, immer noch das Gras streichelnd. „Du musst mir alles erzählen! Wo wir herkommen und warum wir hier sind! Wer ich war und wer unsere echten Eltern sind! All das!“
„ Du stinkst! Als Erstes suchen wir einen Teich oder einen See und da badest du. Den Rest erzähle ich dir schon noch. Wir müssen ja notgedrungen einige Zeit miteinander verbringen.“
Elsa wollte auch nicht mehr stinken. Also folgte sie Nikodemia durch die Wiese, die sich bald in einen jungen Wald aus kleinen Bäumen verwandelte. Sie kamen an einen breiten, langsam fließenden Fluss, doch Nikodemia ließ Elsa nicht hinein.
„ Siehst du das nicht?“, fragte er aufgebracht. „Das ist ein riesiger Graben und du würdest mit dem Wasser sonstwohin flutschen! Bleib bloß weg vom Rand!“
Sie sah es tatsächlich nicht. Als Nikodemia weiterging, trottete sie hinter ihm her, in sicherem Abstand am Flussufer entlang und schlief fast mit offenen Augen ein. Die ganze Zeit stand die Sonne als glühender Ball am Himmel, ohne sich zu bewegen. Irgendwann zeigte Nikodemia auf eine Treppe, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Die Treppe führte hinab in ein rechteckiges Becken, gefüllt mit türkisfarbenem Wasser. Als sich Elsa verwundert umsah, war die Landschaft verschwunden und auch die Sonne. Sie befanden sich im Inneren eines Gebäudes.
„ Ein Schwimmbad?“
„ Was weiß ich?“, sagte er. „Ich setze mich da hinter die Mauer und du siehst zu, dass du den Gestank loswirst.“
„ Ich habe aber keine Seife. Und was soll ich anziehen, wenn ich fertig bin?“
Nikodemia schaute sich suchend um. Er fand einen Schrank, der wie ein senkrecht stehender Koffer aussah, öffnete ihn und zeigte hinein.
„ Da!“
Dann verschwand er wie versprochen hinter der Mauer und überließ es Elsa, den Schrank zu durchsuchen. Sie fand eine Flasche mit Putzmittel und einen Altkleidersack, aus dem sie sich eine Hose, einen Pulli und eine Jacke zog.
„ Hast du das gemacht?“, fragte sie. „Hast du dir diese Sachen ausgedacht und dann sind sie einfach erschienen?“
„ Dann gäbe meine Fantasie nicht viel her“, brummte er hinter seiner Wand.
„ Aber du hast doch gesagt, du bringst den Zwischenraum dazu, etwas zu sein!“
„ Er macht Licht und Formen für mich“, sagte Nikodemia. „Wenn ich hungrig bin und meine Aufmerksamkeit darauf richte, dann gibt er mir auch etwas zu essen. Aber er macht auch, was er will. Wenn er mich ärgern will, dann regnet es den ganzen Tag und abends bekomme ich nur verschimmelten Käse.“
„ Er ärgert dich? Der Zwischenraum?“
„ Jetzt mach schon!“, rief er. „Wir sind auf der Flucht, wir müssen heute noch vorankommen.“
Elsa fragte sich, was das Wort ‚heute’ an einem Ort bedeutete, an dem sich die Sonne nicht bewegte. Doch sie wollte Nikodemias Geduld nicht länger strapazieren, schließlich brachte er sich selbst in Gefahr, um ihr zu helfen. Sie zog sich aus, kletterte mit dem Putzmittel ins Schwimmbecken und produzierte dort ordentliche Seifenblasen. Als sie sich sauber genug fühlte, trocknete sie sich mit einem Putzlumpen ab, rubbelte ihr Haar, bis es nicht mehr tropfte, und zog sich an.
„ Fertig“, sagte sie.
Nikodemia stand auf und führte sie aus dem Gebäude hinaus in eine nächtliche Gebirgslandschaft. Er drehte sich fast nie nach ihr um, aber manchmal gab er ihr mit der Hand zu verstehen, dass sie stehen bleiben sollte. Dann lauschte er, machte wieder ein Handzeichen und ging weiter. Sie sprach nicht, weil sie das Gefühl hatte, leise sein zu müssen. Es war schwierig genug, sich auf die schmalen, abschüssigen Wege zu konzentrieren, müde wie sie war. Endlich, nach einem Zeitraum der sich wie mehrere Stunden angefühlt hatte, sagte Nikodemia:
„ Legen wir uns schlafen“, sagte Nikodemia.
„ Hier auf den Felsen?“
„ Nein, dort!“
Elsa sah sich suchend um und entdeckte eine Hütte, in der Licht brannte. Sie kletterten hinab zu der Unterkunft, die vor wenigen Schritten bestimmt noch nicht dort gewesen war. Nachdem sie sich durch die kleine Eingangstür gezwängt hatten, fanden sie etwas zu essen auf dem Tisch neben der Kerze. Nikodemia schloss die Tür und machte sich daran, das Brot und den Speck in zwei Hälften zu teilen, was schwierig war, da sowohl
Weitere Kostenlose Bücher