Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
hielt sie am Arm fest und gab ein Mittelding aus entsetztem Kreischen und Gelächter von sich.
„ Ulissa! Meine Liebe, ich dachte, du wärst mausetot!“
Lange Nägel bohrten sich in Elsas Arm. Sie gehörten einer jungen Dame mit blondem, welligem Haar und einem sehr gewagten Ausschnitt. Viele funkelnde Schmuckstücke baumelten um ihre Handgelenke und den Hals. Ihre Lippen waren kirschrot und ein bisschen verschmiert, ihre blauen Augen gerötet. Die Frau war gerührt und gleichzeitig erfreut über diese unerhörte Abwechslung. Immer noch hielt sie Elsas Arm fest umklammert.
„ Dann bin ich wohl ein Gespenst“, sagte Elsa.
„ Ein Gespenst!“ Die Frau war begeistert. „Ein ganz lebendiges. Aber wie siehst du aus? Warst du auf der Flucht? Du brauchst dringend ein Bad, mein Schatz! Du stinkst!“
Zwei elegant gekleidete Männer saßen der Frau fast auf dem Schoß. Neugierig und wenig angetan musterten sie Elsa.
„ Ein Bad, ja“, sagte Elsa und wollte weitergehen. Doch die Frau ließ sie nicht los.
„ Warte, warte! So leicht kommst du mir nicht davon. Wo hast du gesteckt? Warum sagen alle, du bist tot? Ich habe deine Schwestern Trauer tragen sehen!“
Elsa zog an ihrem Arm. Sie wollte sich nicht streiten, aber ihr Gegenüber ließ nicht los.
„ Sie ist ein schlimmes Mädchen!“, erklärte die Frau ihren Tischnachbarn. „Gerade sieht sie nicht so aus, aber ich könnte euch Geschichten …“
Sie hielt erstaunt inne, da ein ungehobelter Junge auf die vermeintliche Ulissa zutrat und diese unhöflich schubste.
„ Was soll der Quatsch?“, fuhr er Elsa an. „Steh hier nicht blöd rum, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Los, los!“
Er warf der Blonden einen sehr bösen Blick zu. Es war Nikodemia, zumindest sah er dem Nikodemia, den Elsa einmal kennengelernt hatte, sehr ähnlich. Er war größer als damals, erwachsener, immer noch schwarzäugig und schwarzhaarig und missmutig. Hatte er damals wie ein gerissener Taschendieb ausgesehen, so ähnelte er jetzt einem ausgewachsenen Räuber, der nicht genug zu essen bekam. Immerhin bewirkte sein Auftreten, dass die junge Frau ihren Griff lockerte und Elsa freikam.
„ Du schuldest mir noch Geld“, rief sie Elsa hinterher, als diese in Begleitung von Nikodemia das Gasthaus verließ.
„ Ich bin nicht Ulissa“, sagte sie, als sie an die frische Luft traten.
„ Wie könntest du auch?“, erwiderte er. „Du bist so anders als sie!“
Das klang wie ein Vorwurf. Elsa war das gleichgültig. Über ihnen nahm der Himmel eine leuchtend blaue Farbe an. Er sah aus wie etwas, in das man eintauchen und sich für immer auflösen konnte. Elsa starrte verträumt nach oben und wurde immer langsamer, bis Nikodemia protestierte.
„ Du änderst dich nie“, schimpfte er, „und weil du so bist, wie du bist, nämlich vertrödelt und schwer von Begriff, bin ich noch am Leben, während du bei der ersten Gelegenheit den Löffel abgegeben hast! Geh schneller, das hier ist kein Spaziergang!“
„ Was für einen Löffel habe ich abgegeben?“, fragte Elsa, der dieser Ausdruck fremd war.
„ Siehst du? Das meine ich.“
Nikodemia ging quer über den Großmarkt und Elsa hielt Schritt. Das Licht verschreckte die Besucher des Matrosenviertels. Mit der Helligkeit verschwanden sie, verkrochen sich an Orten, die dunkel blieben. So kam es, dass die Gasse, in die Nikodemia bald einbog, menschenleer war.
„ Wir sind zusammen nach Sommerhalt gekommen“, erklärte er ihr, „und wenn du nicht zwischendurch gestorben wärst, dann könntest du dich daran erinnern.“
„ Ich habe dich zum ersten Mal gesehen, als ich in den Umgekippten Eimer gekommen bin. Als Amandis.“
„ Nein, du hast mich schon tausend Mal gesehen.“
Er hielt vor einem schmalen Haus an, das zwischen zwei größeren eingeklemmt und von diesen in eine schiefe Lage gedrückt worden war. Zumindest sah es so aus. Die Haustür hatte ein Loch, ungefähr in der Größe einer Stiefelsohle. Nikodemia schob die kaputte Tür auf und machte Elsa ein Zeichen, ihm in den dunklen Flur zu folgen. Sie tat es. Es gab kaum einen Grund, es nicht zu tun. Was sie erwartete, konnte nicht schlimmer sein als das, was hinter ihr lag. Außerdem, wenn sie in sich hineinhorchte, kam ihr dieser Junge auch irgendwie bekannt vor – sein überlegenes Gehabe und seine Ungeduld. Am Ende des Flurs entdeckte sie ein schwaches Licht. Es war nicht das Licht einer Lampe, sondern es glich dem Widerschein einer rosaroten Abenddämmerung.
„
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