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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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unwirtlichen Zwischenraum, der sie allmählich in den Wahnsinn trieb. Dann plötzlich, vor drei Wochen, trat unverhofft ein Waffenstillstand ein, ein zaghafter Frieden an allen Fronten, der es ihnen erlaubte, in eine wirkliche Welt zu gehen, Gold einzutauschen und abends mit einem gefüllten Bauch in einem bequemen Bett einzuschlafen.
    Sie trauten diesem Zustand nicht. Sie befürchteten, dass es die Ruhe vor dem Sturm war, ein ungutes Zeichen, der Anfang vom Ende. Noch vor wenigen Stunden hatten sie in einem Restaurant gesessen und waren über ein Beben unter ihren Füßen erschrocken. Es bebte nur sachte, doch anhaltend. Morawena wollte ihr Essen stehen lassen und den Erschütterungen auf den Grund gehen. Nikodemia weigerte sich. Wenn man im Matrosenviertel aufgewachsen ist, lässt man nicht leichtfertig ein gutes Essen stehen. Schon gar nicht so ein außergewöhnlich teures wie dieses. Nikodemia hatte ja noch nicht mal mit der zweiten Vorspeise angefangen. Er ließ sich von Morawena nicht beirren und aß weiter bis zum letzten und achten Gang, obwohl er gar nicht wusste, wo er den flambierten Melonenkuchen eigentlich noch hinstecken sollte. Morawena sah ihm beim Essen zu, ohne richtig hinzugucken. Sie war woanders mit den Gedanken. Zwischendurch schob sie mechanisch ein paar Bissen in den Mund. Den Melonenkuchen starrte sie an, ohne ihn anzurühren. Es war nicht notwendig, nachzufragen, was Morawena so beschäftigte. Es war Nikodemia klar, dass das Beben Morawena endgültig dazu bewegen würde, nach Sommerhalt zu gehen und Nada zu suchen. Wenigstens zu erfahren, ob er noch lebte und ob es ihm gut ging. Das war sehr leichtsinnig, ja geradezu idiotisch. Da flüchteten sie kreuz und quer durch das ganze Universum, um den Rabenjägern zu entkommen, und da wollte Morawena einen Ausflug machen, mitten hinein in das wichtigste Kriegsgebiet. Das Üble daran war, dass ihre Unvernunft ihn mitriss. Er war versucht, ähnlich leichtsinnig zu sein. Aus Heimweh.
    „Ich gehe nach Brisa“, sagte er nun, als sie nebeneinander im frischen Matsch des Zwischenraum-Ackers hockten. „Wenn alles gut geht, treffen wir uns morgen am üblichen Ort.“
    „Glaubst du, den gibt es noch?“
    Daran hatte Nikodemia gar nicht gedacht. Sie hatten immer eine Reihe von Treffpunkten, an denen sie sich wiederfinden konnten, wenn sie mal in unterschiedliche Richtungen flüchten mussten und auch sonst alles schief lief. Das hatten sie aus Elsas Verlust gelernt. Doch all diese Treffpunkte befanden sich in blinden Winkeln des Zwischenraums, so wie damals das Haus, in dem Elsa fast den Verstand verloren hatte.
    „Was willst du überhaupt in Brisa?“, fragte Morawena in der für sie typischen Weise. Was sie eigentlich damit sagen wollte, wusste Niko genau. Nämlich dass das Matrosenviertel kein Ort war, dem man auch nur eine Träne hinterherweinen sollte. Zweitens, dass Brisa ein Möwennest war, das kein Rabe betreten sollte. Drittens schließlich, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn er sie nach Hagl begleitet hätte. Dort wollte sie nämlich hingehen.
    „Wenn alle Kriege vorbei sind, dann gebe ich dir im Eimer einen aus“, sagte er. „Damit du weißt, was du verpasst hast.“
    „Na, so weit wird es zum Glück nie kommen.“
    Wenn Nikodemia an den Umgekippten Eimer dachte, ging ihm das Herz auf. Es gab keinen Ort in allen wirklichen Welten, der ihm so viel bedeutete wie diese Kneipe, in der er seine Kindheit verbracht hatte. Die vertrauten Gerüche, die geheimen Ecken und Winkel, die nur er kannte, die leere Gaststube an Vormittagen, Carlos, der die Tische abwischte … Carlos würde nicht mehr dort sein. Aber all die anderen Menschen, die Nikodemia so gut kannte, dass er sie auch noch wahrnehmen konnte, wenn sie tot waren. Er hatte schon einige alte Bekannte sterben sehen, aber an manchen Tagen glaubte er sie im Matrosenviertel zu bemerken. Dann spukten sie herum und machten sich einen Spaß daraus, Betrunkene zu erschrecken.
    „Wenn die Treffpunkte nicht mehr da sind“, sagte er, „dann gehen wir in die letzte Welt zurück. Affen füttern.“
    Morawena nickte mit großen, dunklen Augen. Sie hatte Nikodemia erst gestern ausgelacht, weil er wie all die anderen blöden Leute die zahmen Affen im Stadtpark mit Nüssen gefüttert hatte. Nüsse, die man für teures Geld bei dicken, alten Omas kaufte.
    „Es wird schon klappen“, sagte Nikodemia. „Wir haben ja Übung.“
    „Hoffentlich“, sagte sie. „Geh voraus. Wenn du in fünf Minuten

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