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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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zurückkommst, lasse ich es bleiben.“
    Er machte ein Gesicht, das ihr mitteilte, dass sie das ja wohl selbst nicht glaubte. Natürlich würde sie in fünf Minuten längst weg sein. Eigentlich konnte sie es kaum erwarten, nur die Angst hielt sie noch zurück. Es war aber nicht die Angst vor der Gefahr, die sie bremste, das glaubte Nikodemia sicher zu wissen. Es war die Angst, dass das, was sie am Leben hielt, tot sein könnte. Sie zuckte mit den Achseln und er machte sich auf den Weg.
    Das Tor in der Ebene, das Nikodemia benutzen wollte, erwies sich als tückisch. Er brauchte eine ganze Weile, um es zu finden. Fast hätte er es mit einem anderen Tor verwechselt und wäre mitten im Meer gelandet, einige Flugstunden nördlich von Brisa. Doch er bemerkte den Irrtum, korrigierte seine Ausrichtung und trat ins Dunkel der alten Wachturm-Ruine, die er schon als Kind benutzt hatte, um von Brisa in den Zwischenraum zu kommen. Die Ruine war immer noch da und nichts ließ auf die Nähe von Möwen schließen. Trotzdem wartete Nikodemia lange Zeit im Dunkeln, bevor er durch die Tür in die Morgendämmerung spähte. Was er sah, als er es schließlich tat, ergab keinen Sinn. Es blieb sinnlos, auch als er aus der Ruine ins Freie trat: Dort, wo das Matrosenviertel hätte sein müssen, war nichts. Überhaupt nichts mehr. Es gab nicht mal erkennbare Trümmer, sondern nur eine riesige, schwarze, schlammige Ebene, durch die sich der Fluss kämpfte. Das Tageslicht, das langsam die Nacht erhellte, machte es nicht besser. Das Wasser des Flusses war grau. Eine undurchsichtige flüssige Masse aus Strudeln, an deren Rändern sich Schaumberge bildeten. Sonst nichts. Nicht mal die Toten hatten hier noch etwas verloren. Sie waren weg, ebenso wie das Matrosenviertel. Nie wieder würde Nikodemia ihr Spuken vernehmen.
     
    MARIE-ROSA bedankte sich. Der junge Mann in Uniform, der ihr den Koffer aus dem Gepäcknetz gehoben und überreicht hatte, verbeugte sich andeutungsweise und lächelte. Er sah gut aus. Bestimmt wurde Marie-Rosa jetzt rot. Aber da wandte er sich schon ab und verließ das Abteil. Verlegen stellte Marie-Rosa ihren Koffer auf den Boden und starrte aus dem Fenster. Nur noch eine Station bis Kristjanstadt. Nur noch eine Station bis Gunther-Sven. Natürlich liebte sie ihn. Natürlich freute sie sich auf das Wiedersehen. Sie hätte blind sein müssen für alle anderen Männer. War sie aber nicht.
    Ein leichter Regen fiel, als der Zug in den Kristjanstädter Bahnhof einfuhr. In der Halle war es dunkel, viele Lampen waren kaputt. Die Geschäfte waren noch geschlossen, aber einzelne Stände waren vor den Gleisen aufgebaut worden, da konnte man Zeitungen und Gemüse kaufen. Zwischen einem Berg Kartoffeln und einigen Körben Zwiebeln ragte Gunther-Sven empor, hager, blond, groß und mit einem neuen Bärtchen, von dem Marie-Rosa nicht sagen konnte, ob es ihr gefiel oder nicht. Er eilte ihr entgegen, um ihr den Koffer abzunehmen. Gleichzeitig versuchten sie, einander in die Arme zu fallen, doch der Koffer und drei Monate Trennung waren im Weg, sodass sie sich ein bisschen verfehlten und dann mit den Köpfen zusammenstießen. Nicht schlimm. Sie lachten.
    „Hab ich dich vermisst!“, sagte Marie-Rosa. „Geht es dir gut?“
    Gunther-Sven bejahte es eifrig. Jetzt hatte er ihren Koffer in der Linken und ihre Hand in der Rechten und so spazierten sie aus dem Bahnhof hinaus in die vertraute und doch so veränderte Stadt.
    „Wir können heute Abend ausgehen“, sagte Gunther Sven. „Im alten Schwimmbad haben sie ein Tanzlokal aufgemacht. Da treffen sich alle, ich hab auch schon Einar und Hanno dort gesehen. Es ist richtig groß. Wenn man keine Lust hat zu tanzen, dann sitzt man am Beckenrand oder in den Duschräumen und redet.“
    „In den Duschräumen!“
    „Ja“, sagte Gunther-Sven. „Es ist witzig.“
    „Da gehe ich gerne hin“, sagte Marie-Rosa.
    Gunther-Sven erkundigte sich nach Marie-Rosas Familie. Marie-Rosa erzählte von den Sorgen, die sie hatte. Von ihrer kranken Schwester, dem mürrischen Vater und der Mutter, die heimlich trank. Nur Peer, der kleine Bruder, machte sich ganz gut.
    „Vielleicht kommt er auch nach Kristjanstadt, wenn er mit der Schule fertig ist.“
    Sie gingen drei Schritte schweigend, dann sagte Gunther-Sven:
    „Gut, dass hier wieder was los ist. Am Ende war es völlig ausgestorben.“
    Marie-Rosa versuchte sich das vorzustellen. Jetzt gingen viele Menschen durch die Straßen, der sanfte Regen störte sie nicht.

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