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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Es war nicht so, dass der Zwischenraum in einer echten Welt aufhörte. Würde er es tun, dann wäre die Welt starr und fest, nichts würde sich bewegen, kein Wesen atmen, kein Leben existieren. Sondern der Zwischenraum wurde fein, feiner als Staub und Luft. Ein Hauch von ihm durchdrang die Dinge und die Geschöpfe und stürzte sie immer wieder in die Veränderung. Vom Zwischenraum aus betrachtet sah es aus wie ein farbiges, wildes Spiel, doch auf der anderen Seite des Tores, mitten in der Wirklichkeit, wandelte sich die Leichtigkeit in zwingende Bedingungen. Es war empfindlich kalt an diesem Ort, den sie jetzt betraten, ein kräftiger Wind wehte und Sand flog darin herum, der Elsa in den Augen brannte.
    Sie verließen eine höher gelegene Plattform, die mal zu einer Aussichtsterrasse gehört haben musste, doch als hätte sie der Sturm erst in dieser Nacht auseinandergerissen, lag sie in Ruinen da, ebenso wie die Gebäude des Umlandes. Als sie ein ausgetrocknetes Flussbett erreichten, verwandelten sie sich in Raben. Es ging ganz leicht und war die reinste Erholung. Elsa liebte es zu fliegen. Sie dachte auch nicht mehr nach, folgte nur den beiden anderen Vögeln, die schneller waren als sie. Nicht weil sie kräftiger waren, sondern weniger verträumt. Unter sich sah Elsa die Überreste einer Kultur, die große Gebäude in eine wüstenähnliche Steppe gebaut hatte. Wenn ab und zu der Mond durch die Wolken schien, zogen geborstene Treppen und tempelartige Hallen silbrig schimmernd unter ihr hinweg. Ein bisschen traurig sah es aus und doch erhaben. In vollendeter Schönheit würden sich die Gebäude über Jahrhunderte hinweg in Sand verwandeln, immer wieder vom Mond beschienen.
    Das nächste Tor lag jenseits der Ruinen in der vollkommen leeren Steppe. Wie es ihr zuvor von Nikodemia erklärt worden war, hielt Elsa dort ihren Kopf ins Ungewisse, äugte hierhin und dorthin, berührte fremde Erde mit der Schnabelspitze oder auch nur mit ihren Gedanken. Dann flogen sie weiter über ein salziges Meer, dessen steile Ufer weiß glitzerten. Der Himmel war aufgerissen und der Mond, ein unförmiger Dreiviertelmond, spiegelte sich auf der stillen Wasseroberfläche. Jenseits des Meeres stand ein Turm, auch verlassen, doch noch nicht zerstört. Oben, wo einmal Leuchtfeuer gebrannt haben mussten, befand sich ein kleiner Durchlass. Dieses Tor wollten sie schließlich benutzen, doch zunächst würden sie nur ihre Spuren hinterlassen, wie beim letzten Tor, um dann zwei weitere Tore anzufliegen. In ein paar Stunden würden sie hierher zurückkehren.
    Das nächste Tor war nicht weit entfernt, es lag in einer Schlucht, die ein Fluss, der nicht mehr floss, in eine grottenähnliche Riesenhöhle verwandelt hatte. Elsa war begeistert, doch Nikodemia flog schon weiter. Wie im Halbschlaf folgte Elsa, bis sie eine bewohnte Oase erreichten und das vierte Tor. Dann ging es zurück, gegen den Wind und der Morgendämmerung entgegen. Als sie den Turm erreichten, hatte das Salzmeer, an dessen Ufer er stand, eine milchig blaue Farbe. Elsa konzentrierte sich. Sie mussten nun gemeinsam in die nächste Welt fliegen und durften sich nicht verlieren. Als Menschen konnten s ie einander anfassen, doch wenn sie Raben waren, musste der Wind ausreichen, den die Flügelschläge der anderen erzeugte n . Der Wind und die Auswirkungen ihrer nichtsartigen Seele. Elsa bemerkte es deutlich bei den anderen, dass sie Löcher im Universum waren, genauso wie sie. Andersartig, jenseitig, leer, dennoch Wirbel von Leben. Viel mehr als auf die Flügelschläge verließ sie sich auf ihre Wahrnehmung dieser nicht fassbaren Andersartigkeit, die sie aus ihrem eigenen Inneren kannte und die ihr immer noch unheimlich war. So gelangte sie in einigem Abstand in die andere Welt, die Nikodemia für sie alle aussuchte, und wurde dort von einem ärgerlichen Menschen empfangen.
    „Bleib gefälligst näher bei uns, du hättest verloren gehen können!“, schimpfte Nikodemia.
    Sie flog an das Ufer eines eingezäunten Sees, wo die beiden anderen im Schatten einer großen Eiche warteten, menschlich und ungeduldig. Nikodemia zumindest. Morawena war sehr blass, sah aber belustigt aus.
    „Ich wusste die ganze Zeit, wo ihr seid“, sagte Elsa, kaum dass sie sich von einem Raben in ihre menschliche Gestalt verwandelt hatte. „Die Sekunde, die ich langsamer war …“
    „Sekunde? Wir haben Minuten gewartet!“
    „Meine Güte, wirklich Minuten?“, fragte Elsa, ohne den nötigen Ernst aufzubringen.

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