Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
gewesen war. Es hatte mit fünf Jahren angefangen und vom ersten Tag an waren ihr bunte Lutscher vertraut gewesen, denn Wenslaf verkaufte sie in seinem Laden. In den exotischen Sorten Mandarino, Ozean und Safari. Die Safari-Lutscher waren gelb mit braunen Streifen und sollten wohl nach Banane schmecken, doch eine hartnäckige Note von Schuhcreme im Abgang ließ sich nicht leugnen. Mit dieser Erinnerung an einen Geschmack auf der Zunge nickte Elsa ein. Sie wachte erst wieder auf, als Morawena sie anstieß und „Aussteigen!“ rief.
Es war später Nachmittag und sie stolperte hinter den anderen auf einen Bahnsteig irgendwo auf dem Land. Es roch gut nach Heu, aber ihre Augen tränten, vielleicht von dem Rauch, der die ganze Zeit zum Fenster hereingeweht war oder weil die Wiese blühte und im späten Licht so schön golden aussah, dass es Elsa ganz wehmütig zumute wurde. Mit einigen anderen Menschen warteten sie auf einen Zug, der ins Gebirge fahren sollte. Elsa hörte, wie Nikodemia und Morawena etwas ausdiskutierten. Es ging darum, ob sie in dieser Welt noch ein wenig bleiben und sich erholen sollten – das war Morawenas Wunsch – oder ob es sicherer wäre, noch ein oder zwei Welten zu durchqueren. Nikodemia war versucht, Morawenas Wunsch nachzugeben. Dabei fiel Elsa auf, dass Morawena bei Nikodemia eine ganz andere Taktik anwandte als beim Juwelier. Denn Nikodemia reagierte auf alle Einlullungsversuche übellaunig. Am weitesten kam Morawena bei ihm mit einer schmucklosen Ich-will-das-aber-Technik, für die er das meiste Verständnis zeigte. Es wäre auf ein hartes und langwieriges Duell zweier Dickköpfe hinausgelaufen, wenn Nikodemia nicht angesichts der zehntausendfünfhundert Gurken in Geldscheinen, über die sie augenblicklich verfügten, einen bequemen Urlaub in Luxus und Wohlstand gewittert hätte. Wenn sie schon so viel Geld hätten, meinte er, dann sollten sie es auch ausgeben. Alles andere wäre ja Verschwendung. Das gab den Ausschlag. Als sie im nächsten Zug saßen und es langsam dunkel wurde, war bereits entschieden, dass sie in einer Stadt namens Fonorr aussteigen und sich eine Pension suchen würden. Diese Stadt, die zwischen hohen Bergen lag, würde allerdings erst am nächsten Morgen erreicht werden.
Wenn in Fonorr das Wetter klar war, dann konnte man die schneebedeckten Gipfel sehen, hoch oben, wo der Himmel anfing. Dann war die Luft kalt und rein und man hatte doppelt so viel Hunger wie an regnerischen Tagen. Das Essen hier war ausgezeichnet, wenn man stinkenden Käse mochte, den es in allen Varianten und zu jeder Tageszeit gab, vornehmlich mit Krautsalat. Sie wohnten in einer hübschen kleinen Pension mit roten Blumen vor den Fenstern und einer Wirtin, die ihre neuen Gäste für die unehelichen Kinder eines berühmten Opernsängers hielt. Wie es dazu gekommen war, war Elsa zunächst ein Rätsel. Doch im Laufe der ersten Woche wurde ihr klar, dass Morawena diese abenteuerliche Geschichte nur in die Welt gesetzt hatte, um herauszufinden, wie strapazierfähig die Gutgläubigkeit der Wirtin denn wäre. Jeden Tag flüsterte sie der arglosen Frau noch haarsträubendere Einzelheiten ins Ohr und am meisten Spaß machte es ihr, wenn die Wirtin zweifelte, den Betrug fast durchschaute und dann doch wieder schwach wurde angesichts von Morawenas Überzeugungskraft. Nikodemia fand es gar nicht lustig, dass er angeblich nur noch einen Hoden besaß aufgrund eines Erbfehlers, von dem auch der berühmte Opernsänger betroffen sei. Oh ja, der junge Mann würde es der Wirtin beweisen, wenn der Beweis an sich nicht so unschicklich wäre. Das tuschelte Morawena der Wirtin beim Frühstück zu und Nikodemia zerhämmerte unterdessen die Schale seines Frühstückseis. Seine Verärgerung bestärkte die Wirtin darin, dass das Gesagte der Wahrheit entsprach. Warum sollte man so ein Unglück auch erfinden?
Mittlerweile waren sie auch standesgemäß gekleidet. Elsa trug jetzt Korsett und Kostümkleid sowie einen ausladenden Hut auf dem Kopf, wobei ihr der Sinn dieser Kleidungsstücke nicht einleuchtete. Gut, das Korsett war kleidsam, war aber unbequem. Das lange, enge Kleid behinderte sie beim Laufen und ein Hut war nur störend, es sei denn, die grelle Sonne schien ihr auf den Kopf und der Hut spendete Schatten. Dann war er allerdings zu warm. Vor allem, wenn er auf den mit tausend Nadeln hochgesteckten Haaren saß, auf denen Morawena bestand.
„Niemand läuft hier mit offenen Haaren herum“, ermahnte sie Elsa.
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