Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
den Augenbrauen hatte sich eine tiefe Furche eingegraben, feine Linien liefen um ihre Augen und ihr immer noch langes Haar war ein wenig von Grau durchzogen. »Färbst du es nicht?«, hab ich sie gefragt.
Gertrud schüttelte den Kopf. »Ich lasse es abschneiden.«
»Abschneiden«, wiederholte ich. »Wie schade. Ich kann mir dich gar nicht vorstellen ohne lange Haare.«
Wir lächelten uns an, fühlten unsere Herzen am Hals und fanden einander von den Geheimnissen der Jahre durchdrungen, die wir uns nicht gesehen hatten. Nichts, hab ich gemerkt, geht verloren, wenn man es in sich trägt.
Der Abend kam, kühle Luft drang durch die Fenster ins Haus. Obwohl der Sommer verglühte, konnte man ihn noch riechen, er schmeckte nach Zwetschgenmarmelade und Holundermus und in den Fensterscheiben spiegelte sich unklares Licht, das letzte des Tages, schimmernd in der Dämmerung.
Irgendwann haben wir begonnen, von damals zu reden, von der Unendlichkeit , von dem, was wir damals dafür hielten. Wir redeten von dem Taumel, in dem wir uns befanden, von dieser Liebe, die uns umfing mit einer Vehemenz, der wir nicht gewachsen waren, die uns zusammengeführt hatte, die uns in Wahrheit aber trennte – jedoch so klug und mit Bedacht, dass wir es lange nicht merkten, erst, als es zu spät war, erst, als der Tod gekommen war.
»Ich verstehe es heute nicht mehr«, sagte ich. »Ich weiß heute nicht mehr, wie wir glauben konnten, dass diese Liebe uns Unendlichkeit verschaffen würde. Was für ein Wort außerdem. Unendlichkeit! Was sollte das sein? Was sollte das heißen? Und wer würde das wollen. Unendlich sein. Ohne Ende. Doch nur Kinder, die nichts wissen.«
Meine Stimme zitterte, ich hielt inne, schaute Gertrud an, deren Gesicht undurchdringlich war. Sie widersprach nicht.
Und ich dachte zurückzurückzurück , zwanzig Jahre zurück, mehr als zwanzig Jahre …
Der Sommer hatte sich in leuchtenden Farben breitgemacht, noch abends goss er sein Licht über die Plätze und Straßen und im Brunnen spiegelte sich die Sonne bis zum Untergehen, eine goldene Scheibe, die zersprang, als ich eine Münze warf und mir den Tonio auf ewig wünschte.
»Wehe, wenn du mich nicht glücklich machst!«, sagte ich scherzhaft drohend, fuhr mit der Hand ins Wasser und bespritzte ihn. Spät kam die Dunkelheit in die Gassen. In einem Torbogen stehend, beschloss ich, dass ich eines Tages eine Tochter haben würde, eine mit Namen Lilli. Sie würde heranwachsen und zu einer Frau werden, zu keinem Wesen aus Algen und Tand, nein, zu einer Frau, und die Hilfe, die sie brauchte, würde ich ihr geben, das beschloss ich, während ich Tonios Atem spürte. Ich war sicher, meine Güte, ich war so sicher, dass ich in Gedanken schon mit ihr redete, plauderte, lachte, in jenem Torbogen, während Tonio mit seinen Lippen über meinen Hals strich, meine Schulterkuhlen, dass ich sie beim Namen nannte, Lilli, obwohl sie Lichtjahre entfernt war, Lichtjahre, aber ich wusste in diesem Augenblick, manchmal müssen Wünsche in Erfüllung gehen.
Zurück in Gertruds Küche, Marmeladetropfen an ihrem Knie, wir haben über die Liebe geredet und das, was wir damals dafür hielten. Ich schüttelte den Kopf, sagte: »Nein.« Nein, dass diese Liebe in Wirklichkeit keine gewesen sei, ein kurzer Rausch nur, mehr nicht. Eine unglückselige Verkettung unglückseliger Umstände. Ein Irrtum. Und keine Wünsche, die in Erfüllung gegangen waren, keine, nie.
Gertrud widersprach nicht. Wir lagen auf der Terrasse, es wurde kalt, wir hüllten uns in Decken.
»Trotzdem habe ich«, sagte ich, »nie wieder jemanden geliebt wie ihn. Und an keinem«, sagte ich, »habe ich so gelitten.«
Wir hüllten uns in Decken und kuschelten uns ein, denn ins Haus gehen, nach diesen Sätzen, konnten wir nicht, noch weniger uns in die Augen sehen.
41 »Ich weiß nicht«, sagte Dorothee Brendler, »ob Tonio einer fürs Leben gewesen wäre. Ich glaube nicht.«
Franza saß mit Dorothee auf der Terrasse unter dem Zwetschgenbaum. Die letzten Früchte fielen ab, verfaulten. Dorothee war aus dem Hotel aus- und hier ins Haus von Gertrud und Christian eingezogen, sorgte für Moritz, jetzt umso mehr, da Christian verhaftet war. Alles wirkte normal, alles ordentlich, der Küchenboden war geschrubbt. Nichts erinnerte mehr daran, dass hier eine Tragödie stattgefunden hatte. Die Marmeladengläser vielleicht, die immer noch in Reih und Glied auf der Anrichte standen, und die Stille, die wie ein dunkler Schleier über dem
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