Rabenvieh (German Edition)
müsste ich noch einmal die ganze Zeit am Ort des Grauens durchleben.
Die vielen Jahre, die folgten, sind heute mit wenigen Worten nicht annähernd wiederzugeben. Es waren Tage, der völligen Verzweiflung. Tage, an denen ich mich fragte, ob mein Leben überhaupt noch einen Sinn hätte. Tage, an denen ich mich beinahe rund um die Uhr mit Suizid beschäftigte - Tage des völligen Zusammenbruchs.
Zu kämpfen, das hatte ich von Kindesbeinen an gelernt. Ich gab nicht auf und kämpfte wieder. Ich lernte Dinge, die für viele Menschen wohl unvorstellbar sein dürften. Ich lernte, in eine Badewanne zu steigen und darin ruhig und entspannt zu liegen. Anfangs ohne Wasser, in weiterer Folge mit. Es dauerte Jahre, bis ich in der Lage war, ein Bad genießen zu können, ohne dabei Todesangst haben zu müssen. Ich lernte, vor Menschen zu gehen und vor ihnen stehen zu bleiben, ohne Angst haben zu müssen, dass der Mensch hinter mir mich angreifen und mein Leben in Gefahr bringen könnte.
Heute bin ich soweit, dass ich wieder einen Keller betreten kann, wenn auch mit einem etwas mulmigen Gefühl. Für all das habe ich viele Jahre gebraucht. Viele Rückschläge musste ich hinnehmen. Dutzende Male fing ich wieder von vorn an.
Sie überfällt mich von einer Sekunde auf die nächste. Es schnürt mir dabei die Kehle zu. Mein Herz beginnt zu rasen und ich zittere am ganzen Körper. Ich habe Todesangst. Auch wenn ich viele meiner Ängste bezwungen habe, gibt es solche Momente leider nach wie vor in meinem Leben.
Durch den Geruch von Szegediner Gulasch werde ich binnen Sekunden in meine Kindheit zurückkatapultiert. Nächte, in denen es mich aus dem Schlaf reißt, weil ich bis zur völligen Erschöpfung gelaufen bin. Sofort ist mir klar, dass ich in meinen Traum wieder auf der Flucht war. Auch gibt es nach wie vor Nächte, in denen ich erwache, mein Kopfkissen von Tränen durchnässt ist, da ich mich im Traum kniend vor der Badewanne sah – hinter mir meine Pflegemutter mit dem heißen Wasser. Und es gibt auch noch diese Nächte, in denen ich, ehe ich vollständig erwache, mir im Halbschlaf von Armen und Beinen das Blut wische.
Auch wenn all diese Nächte weniger werden, sie sind nach wie vor sehr belastend.
Von Kindesbeinen an war ich gezwungen, »mich zu verkleiden«. Ich durfte niemanden meine Qualen anmerken lassen. Stattdessen musste ich nach der Frage nach meinem Befinden, allzeit jedem lächelnd ins Gesicht lügen, und sagen, dass es mir gut ginge.
Heute verkörpere ich für die meisten Menschen nach außen hin die selbstbewusste Frau, denn ich gebe mich selbstständig, cool, unabhängig und souverän. Damit überdecke ich das Gefühl von Minderwertigkeit und Unsicherheit. Innerlich bin ich ein völlig anderes Wesen. Ich habe Angst, anderen über längere Zeit in die Augen sehen zu müssen, da ich denke, dass mein Gegenüber in mich hineinsieht, meine Unsicherheit erkennt und mich deshalb als unfähigen, unbrauchbaren und nicht liebenswerten Menschen abweisen könnte.
Das Wort Vertrauen besteht für mich nach wie vor nur aus zufällig zusammengesetzten Buchstaben. Ein Wort, das für mich wenig Sinn ergibt und fast nur in einem Märchen existiert. Auch wenn ich den einen oder anderen Menschen in meinem Leben kennenlernen durfte, dem ich vertrauen durfte, ist es für mich immer wieder eine neue Herausforderung, mich zu öffnen.
Um mich auf eine Beziehung einlassen zu können, brauche ich Zeit - viel Zeit. Ich brauche diese Zeit, um spüren zu können, ob ich mich diesem Menschen auch öffnen kann. Ob ich ihm vertrauen kann. Spüre ich die kleinste Unsicherheit, überkommt mich die Angst vor einer möglichen Zurückweisung. Schon allein der Gedanke, dass ich vielleicht wieder verlassen werden könnte, löst in mir ein Gefühl aus, als stünde ich auf Treibsand. Ich habe in so einem Moment das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen und die völlige Kontrolle über mich zu verlieren.
Auch habe ich nach wie vor das Gefühl, um Dasein zu dürfen, eine entsprechende Leistung erbringen zu müssen. Geschenke einfach dankend ohne Gegenleistung anzunehmen, ist für mich eine Herausforderung, der ich bis heute noch immer nicht ganz gewachsen bin.
Egal, ob wir in unserer Kindheit physisch oder psychisch vernachlässigt wurden - jede Art von Vernachlässigung oder Missbrauch richtet großen Schaden an. All das verletzt die Integrität und Würde des Kindes. Gewalt an Kindern zerstört Leben - das des Kindes und nicht selten auch
Weitere Kostenlose Bücher