Rabenvieh (German Edition)
Durch die immer häufiger werdenden Besuche bei meinem Vater bekamen wir uns daher noch weniger zu Gesicht. Patrick machte mir deshalb eines Tages den Vorwurf, dass mir meine eigene Familie nicht mehr wichtig genug zu sein scheine und dass es ihm außerdem kränken würde, dass er die Frau, die er liebe, kaum mehr zu Gesicht bekäme. Unser Haussegen hing gewaltig schief.
Patrick verdiente gutes Geld und wir hätten es uns sogar leisten können, mehrmals im Jahr mit den Kindern in Urlaub zu fahren. Ich arbeitete zu dieser Zeit für eine der größten Sprachschulen weltweit. Da es uns wichtig war, dass einer von uns beiden bei den Kindern war, wenn sie aus der Schule kamen, übte ich meinen Job irgendwann nur noch halbtags aus. Eines Tages, nach der Arbeit holte ich wie so oft die Kinder von der Schule ab, fuhr nach Hause, kochte, half nach dem Essen den Kindern bei den Hausaufgaben und wandte mich anschließend der Hausarbeit zu. An diesem Tag, ich saß gerade bei Andreas und half ihm bei seinen Hausaufgaben klingelte das Telefon. Mein Vater war am Apparat. Er meinte, dass er mich ganz dringend brauchen würde. Ich fragte ihn nach dem Grund und ob es nicht noch ein wenig Zeit hätte. Den Grund wollte er mir am Telefon nicht sagen und meinte, dass es, wenn es eben nicht anders ginge, in Ordnung wäre, wenn ich später käme.
Eine knappe halbe Stunde später klingelte abermals das Telefon. Patrick war am anderen Ende der Leitung. Er erklärte mir, dass sich zwei Kollegen heute krankgemeldet hätten und er nun für einen dieser beiden Kollegen die Nachtschicht übernehmen müsste, da in Kürze niemand anderes zu erreichen wäre. Er meinte, dass er bis zum Nachtdienst nur noch wenig Pause hätte und er diese gerne im Ruheraum seiner Firma verbringen wolle, um vielleicht noch etwas Schlaf zu bekommen.
Mein Vater rief mich jede halbe Stunde an, um zu fragen, wann ich denn endlich kommen würde. Ich erklärte ihm, dass ich keine Lust hätte, mit allen drei Kindern zu ihm zu fahren, und dass Patrick unvorhergesehen länger arbeiten müsste, und bat ihn, noch etwas Geduld zu haben.
Es war gegen halb neun am Abend. Die Kinder waren bereits fertig gebadet und in ihren Pyjamas. Ich begleitete sie in ihre Betten und wartete zu, bis sie eingeschlafen waren. Danach schlich ich mich aus dem Haus. Ich hatte ein ungutes Gefühl und ich wusste, dass es nicht rechtens war, die Kinder allein zu lassen. Aber ich beruhigte mein Gewissen damit, dass ich nicht lange fort wäre – der Weg hin und zurück würde nicht mehr als eine Dreiviertelstunde in Anspruch nehmen. Nie zuvor hätte ich die Kinder auch nur eine Minute unbeaufsichtigt zurückgelassen. Diesmal tat ich es. Für meinen Vater. Ich stieg ins Auto und fuhr zu meinem Vater. Dort angekommen läutete ich an der Sprechanlage, woraufhin im ersten Stock das Fenster aufging. Mit einer Handbewegung deutete er mir an, dass ich hochkommen solle. Ich winkte ab mit der Begründung, dass die Kinder allein zu Hause wären, und bat ihn runterzukommen. Er kam folglich ans Tor und ich bat ihn, gleich zur Sache zu kommen, da ich nicht viel Zeit hätte.
»Ich bin enttäuscht von dir, dass du dich um mich so wenig kümmerst!«, kam von ihm als Vorwurf.
Ich glaubte, nicht recht zu hören. Ich war diejenige, die seit Monaten bei jedem seiner Anrufe alles liegen und stehen ließ und ihn permanent chauffierte. Ich war gerade diejenige, die für ihn die Kinder zu Hause allein zurückließ, weil ich davon ausging, dass es etwas Wichtiges, Unaufschiebbares gäbe und ich war diejenige, die ihr eigenes Familienleben für ihn aufs Spiel setzte. Ich war mir nicht sicher, ob das der Grund war, warum ich so schnell zur Stelle sein musste. Um sicherzugehen, fragte ich ihn, woraufhin er mir die Gegenfrage stellte: »Ist das nicht Grund genug?«
Ohne weiteren Kommentar drehte ich mich um und ging zu meinem Auto. Unglaublich, was sich mein Vater da rausnahm. Gerade er, der sich um uns Kinder einen Dreck scherte, kam mit diesem Vorwurf.
Als ich zu Hause mit dem Auto vorfuhr, sah ich Licht im Stiegenhaus. Andreas, der ab und an einen unruhigen Schlaf hatte, war aufgewacht und verunsichert, dass ich nicht zu Hause war. Er blieb auf der Treppe sitzen und wartete auf mich. Mir war sofort klar, dass Andreas seinem Vater erzählen würde, dass ich nachts außer Haus war.
Patrick konnte im Grunde nicht viel aus der Ruhe bringen. Selten, dass wir Streit hatten und noch seltener, dass ich Patrick in all den Jahren
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