Rabenzauber
sein rechtes Knie war alles andere als froh, sein ganzes Gewicht tragen zu müssen. Schließlich schaffte er es und konnte sich in den Sattel ziehen, aber es war schwer.
Seraph wartete, bis er saß, bevor sie seine Frage beantwortete. »Doch, es steht mir zu, für die Sicherheit von anderen zu sorgen. Es ist, wozu ich erzogen wurde, und gehört zum Rabesein.«
Er ließ Scheck still stehen und schaute auf seine Frau hinab. Sie war stark, und die Götter allein wussten, wie mächtig sie war. Das wusste er ja auch alles, aber in seinem Herzen sah er, wie leicht man ihr wehtun konnte und wie sterblich sie war. Seine Augen sahen eine Frau, die gerade halb so viel wog wie er selbst oder einer ihrer Söhne.
Er liebte alles an ihr. Wenn sie kein Rabe wäre, so wäre sie nicht seine Seraph. Nein, er würde diesen Teil von ihr nicht ändern wollen, selbst wenn das möglich wäre, mochte es auch bedeuten, dass sie ihre Pflicht wieder aufnehmen und den Hof verlassen - ihn verlassen - musste. Aber es musste ihm nicht auch noch gefallen.
»Ja?«, fragte er leise. »Mag sein. Aber diese Geschichten sind so alt, Seraph. Älter als das Kaiserreich. Älter als der Sturz des namenlosen Königs. Bist du sicher, dass du recht hast? Vielleicht hatten die Raben, die Eulen und alle anderen, die eine Weisung haben, einmal eine andere Funktion. Vielleicht gibt es einen besseren Grund, wieso Jes unter der Adlerklaue des Hüters leidet. Ich hoffe das jedenfalls. Wenn der einzige
Grund darin bestand, dass ein paar dumme Zauberer zu dem Schluss kamen, sie sollten ein Durcheinander anrichten, für das noch ihre Kindeskinder und deren Kinder zahlen mussten, dann zahlt ihr alle viel zu viel.«
Hennea blieb stehen, hob einen Stein auf, der ihr gefiel, und steckte ihn in die Tasche. Schwere Wolken hingen am Himmel, aber es regnete noch nicht. Vielleicht sollte sie zum Weg und zu Tier und Seraph zurückkehren.
Wenn Jes und Lehr beide vorangingen, versuchte Hennea Seraph und Tier so oft allein zu lassen, wie sie konnte. Zwischen den beiden bestand eine Spannung, mit der sie selbst zurechtkommen mussten - und allein unterwegs zu sein, störte Hennea nicht. Sie war gern für sich, weil ihr das Zeit zum Nachdenken ließ.
Sie hatte genug Zeit gehabt, um zu dem Schluss zu kommen, dass es richtig gewesen war, bei Jes’ Familie zu bleiben. Ein Mann, der seine Menschlichkeit im Austausch gegen Macht hingab, würde den Schlag, den Tier seinen Plänen versetzt hatte, nicht vergessen. Früher oder später würde der Schatten Tier und seine Familie finden, und Hennea hatte vor, dann ebenfalls anwesend zu sein. Immerhin bestand darin der Sinn ihres Lebens - die Schatten fernzuhalten.
Ihre Entscheidung war richtig gewesen, aber nicht für Jes. Nicht für Jes. Sie würde ihm am Ende wehtun.
Sie nahm den Stein aus der Tasche und warf ihn so fest sie konnte. Er traf einen Baum, prallte von der Rinde ab und flog in die Zweige, bis er schließlich mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.
»Was ist denn?«, fragte Jes, und sie zuckte zusammen. Hüter waren manchmal so.
»Nichts«, sagte Hennea, ohne ihn anzusehen. »Ich dachte
nur, es wäre vielleicht Zeit, zu deinen Eltern zurückzukehren. Sie werden sich schon fragen, wo wir stecken.«
»Ich bin nicht mein Vater«, sagte Jes. Er war jetzt nahe genug, dass sie seine Körperwärme an ihrer Haut spüren konnte. »Ich weiß nicht, wann du lügst.«
»Immer«, erwiderte sie. Das war die Wahrheit, aber sie achtete darauf, unbeschwert zu klingen.
Langsam, sodass sie viel Zeit hatte auszuweichen, lehnte sich Jes an ihren Rücken, legte auf Schulterhöhe einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie konnte spüren, wie sein Atem ihr Haar bewegte, und schloss die Augen, um es noch besser fühlen zu können. Es war lange her, seit jemand sie so berührt hatte. Die Umarmung hatte nichts Sexuelles - wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie sich von ihm gelöst. Aber den Trost, den er ihr bot, konnte sie einfach nicht zurückweisen.
Tränen brannten ihr in den Augen, und sie wusste nicht einmal, warum.
»Du bist müde«, flüsterte Jes ihr ins Ohr und zog sie fester an sich.
»Seraph und ich sind lange aufgeblieben«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht schläfrig. Müde.«
Sie war es tatsächlich müde, in einem vergeblichen Kampf zu stehen, der scheinbar nie ein Ende fand. Es war ihnen gelungen, den Pfad zu besiegen - eine Aufgabe, die ihr unmöglich vorgekommen war, als sie mit Seraph und
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