Rabenzauber
sanfte Regen zu einem heftigen Guss; Seraph zog unwillkürlich den Kopf ein. Als sie aufblickte, stand mitten auf dem Weg ein Pferd vor ihnen.
Es war bleich wie der Tod - ein schmuddeliges Rohweiß, das am Ende seines zerzausten Schweifs in Gelb überging. Es sah vollkommen abgemagert aus, mit Raum für einen Finger zwischen den Rippen und großen Höhlungen unter den eingesunkenen Augen.
»Was ist los?«, fragte Jes. Seraph dachte zunächst, dass er nur Tiers Worte wiederholte.
Aber dann antwortete das Pferd und sprach mit einer Stimme, die so wild und schrecklich war wie das Unwetter.
»Kommt«, sagte es und lief dann zwischen die Bäume.
Beide Jungen und der Hund verschwanden hinter ihm. Scheck machte einen Schritt vorwärts, bevor Tier ihn aufhielt und Seraph und Hennea ansah.
»Es ist der Waldkönig«, sagte Seraph, sobald sie es selbst erkannt hatte. »Geh schon. Hennea und ich kommen so schnell wir können.«
Er wartete nicht darauf, dass sie es zweimal sagte.
»Das ist Jes’ Waldkönig?«, fragte Hennea, als sie neben Seraph hinter Tier hereilte. »Nicht genau, was ich erwartet hätte.«
»Das ist er selten«, stimmte Seraph zerstreut zu, als sie versuchte, so schnell wie möglich durch das Unterholz nahe dem Weg zu brechen.
»Werden wir ihnen folgen, oder weißt du, wohin sie gehen?«
»Kannst du es nicht spüren?«, fragte Seraph. »Ich habe nicht darauf geachtet, bevor es schlimmer wurde - aber dieses Unwetter wurde heraufbeschworen.«
»Rinnie?«
»Es sei denn, es gibt noch einen anderen Kormoran in der Nähe. Etwas stimmt hier nicht.«
Dann schwiegen sie. Seraph wandte all ihre Aufmerksamkeit dem Klettern zu. Der kürzeste Weg nach Hause war steil und zwang sie, langsamer zu werden, bevor sie auch nur die Hälfte zurückgelegt hatten.
»Ich gehe zum Hof«, sagte sie atemlos zu Hennea. »Es fühlt sich an, als wäre sie dort. Ich werde es sicherer sagen können, wenn wir auf der Hügelkuppe sind.«
Hennea machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten.
Seraph blieb auf der Hügelkuppe stehen. Drunten lag der Bauernhof, aber sie konnte ihn wegen der Bäume und dem dunkler werdenden Himmel nicht erkennen. Sie hatte allerdings mehr als nur die übliche Möglichkeit, sich umzuschauen.
Als Seraph und Tier auf den Bauernhof gezogen waren, hatte Seraph als Erstes ringsumher einen Schutzzauber ausgelegt. Der Hof lag so dicht an dem alten Schlachtfeld von Schattenfall, dass es einfach gefährlich war, sich nicht vor den Geschöpfen zu schützen, die der Schatten anzog. Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre hatte Seraph die Kraft dieses Schutzzaubers häufig erneuert.
Und hier auf der Hügelkuppe zog sich der Schutzzauber entlang.
Seraph kniete auf den Kiefernnadeln nieder und berührte die Fäden ihres Banns. Macht erfüllte und berauschte sie - etwas Umschattetes versuchte, die Grenze genau in diesem Augenblick zu überschreiten. Wie eine Spinne in ihrem Netz wartete Seraph, verlangsamte ihren Atem und ließ sich von dem Schutzzauber mehr verraten.
Er beruhigte sich einen Moment später wieder, obwohl Seraph spürte, dass sich das Umschattete, das ihn berührt hatte, immer noch in der Nähe aufhielt. Es gab im Schutzzauber einige schwächere Bereiche, als hätte sie ihn nicht erst vor sechs Monaten verstärkt: Ein oder mehrere Wesen hatten in ihrer Abwesenheit versucht, den Bann zu durchbrechen.
Es donnerte, und beinahe sofort folgte ein Blitz, dann kamen ein zweiter und dritter Blitz, bevor der Wind stärker wurde, bis er schließlich heulte.
Seraph wusste, dass Rinnie in Gefahr sein musste, und sie wollte nicht auf weitere Informationen warten, sondern entsandte Macht entlang ihres Schutzzaubers, zog ihn fester, wie ein Fischer es mit seinem Netz tun würde. Das genügte nicht, um die beschädigten Bereiche vollkommen zu reparieren, aber es würde halten, bis sie Zeit hatte, es besser zu machen.
Sie stand wieder auf und eilte den Hang hinunter auf ihr Heim zu.
»Was hast du erfahren?«, fragte Hennea.
»Nicht viel, nur, dass etwas Um…« Seraphs Stimme wurde von einem gequälten Heulen unterbrochen, das sich laut über den Wind erhob.
»Ein Troll«, stellte Hennea fest.
Als Seraph wieder losrannte, schlug ihr das Herz bis zum Hals.
Sie kamen ein Stück oberhalb des Bauernhauses aus dem Wald, aber es sah auf dem Hof nicht so aus, wie Seraph ihn verlassen hatte. Statt eines halb gepflügten Felds und eines leeren Hauses gab es eine ganze Reihe von Zelten, und ihr Haus wurde von
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