Rabenzauber
»Lerche?«
Seraph nickte. »Ich weiß von keinen Clans, die alle sechs Weisungen hatten, nicht zu reden von einer kleinen Familie. Ich habe noch nie von einer Familie gehört, aus der nur Kinder mit Weisung kamen. Weisungen sind keine Sache der Abstammung. Das ist eines der wenigen Dinge, die wir über sie wissen. Aber warum hat dann meine gesamte Familie Weisungen? Und warum unterschiedliche? Es gibt viel mehr Raben als Lerchen, oder auch nur als Kormorane und Adler.«
»Vielleicht liegt es am Solsenti -Blut?«, spekulierte Hennea.
»Oder an der Magie, die hier in den Bergen verblieben ist. Oder daran, dass die Reisenden Schattenfall im Allgemeinen meiden und sich unser Hof nur ein paar Tagesreisen davon befindet. Oder es ist der Wille der Götter. Oder Schicksal.«
»Es gibt keine Götter«, erklärte Hennea tonlos. »Es ist Zufall.«
»Also gut«, erwiderte Seraph. »Zu welchem Clan gehörte Kerine? Der Rabe, der neben dem Roten Ernave gegen den Schatten kämpfte. Weißt du das?«
»Isoldas Clan.«
»Dann interessiert es dich vielleicht auch zu erfahren, dass Tiers Familie behauptet, von dem einzigen überlebenden Kind des Roten Ernave abzustammen.« Bevor Hennea etwas sagen konnte, machte Seraph eine ungeduldige Geste. »Ich weiß, ich weiß. Mythologie. Mit Ausnahme des Kaisers führt jeder Adlige im Kaiserreich seine Abstammung auf den Roten Ernave zurück. Aber es gibt in der Bäckerei einen Stein, in den sehr primitiv eine Axt eingemeißelt ist, und der Mann, der ihn hinterließ, hielt sich selbst für den Sohn des Roten Ernave - ich habe diesen Stein berührt, genau, wie ich es mit dem Stadtplan gemacht habe.«
Hennea schwieg.
»Ich besitze über zweihundert Mermori , Hennea. Zweihundertvierundzwanzig von fünfhundertzweiundvierzig.« Seraph spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, aber sie blinzelte sie wieder weg. »Warum sollte ich die Last von beinahe der Hälfte der Mermori tragen, die Hinnum hergestellt hat? Warum sind sie nicht zu anderen Clanführern gegangen? Benroln hatte nur wenige. Es gibt doch sicher Reisende, die enger verwandt mit Torbear dem Falkenauge oder Keria der Vierfingrigen sind, als ich es bin. Oder wie kommt es, dass meine Familie - Bauern aus einem kleinen Dorf, das ein halbes Kaiserreich von Taela entfernt ist -, den Kaiser selbst kennenlernte, und das, als er von diesem neuen Schatten bedroht wurde?«
Seraph wartete, während ihr Schweigen ihre Frage noch gewichtiger machte, dann schlug sie das vernachlässigte Buch wieder auf. »Ich weiß es auch nicht. Aber ich frage mich wirklich, ob es Kräfte gibt, die die Ereignisse unseres Lebens formen. Ich hoffe, dass ich mich irre. Ich hoffe, wir werden alle an
Altersschwäche sterben, aber ich glaube nicht, dass das wirklich so kommen wird.« Sie starrte das Buch an, ohne es zu sehen. »Es könnte allerdings sein, dass wir schon vorher am Lungenfieber sterben oder von Trollen getötet werden.«
Es fühlte sich gut an, mit jemandem über diese Dinge zu sprechen, der Muster sehen konnte, die nur ein anderer Reisender entdecken würde. Nicht, dass Hennea mehr darüber wusste, was geschah, als Seraph selbst, aber es fühlte sich auf jeden Fall gut an, es ihr zu sagen.
Seraph sah sich schließlich doch die Seiten an, die sie aufgeschlagen hatte. »Hm. Das hier ist die Kopie eines Buchs, das ich in der Mermora von Kiah der Tänzerin gefunden habe - das war die vierte Mermora , die zu mir kam. Am Anfang habe ich mir das alles noch genau gemerkt.«
6
S eraph fuhr sich mit der Hand über die Stirn, obwohl sie wusste, dass sie mit dieser Geste eine ordentliche Staubspur auf der Haut hinterlassen würde. Sie warf einen Blick zu Hennea, die mit entschlossenem, blassem Gesicht den Inhalt einer Truhe durchsuchte.
Nachdem sie die Bücher aus der Bibliothek sortiert und sich noch weiter in den überwiegend leeren Räumen im Tempel umgesehen hatten, hatten sie Rinnie und die Jungen geholt und sich darangemacht, die Bücher über Solsenti -Zauberei und all diejenigen, die weder Seraph noch Hennea übersetzen konnten, hinunter in Jes’ Geheimraum zu bringen. Dann hatten sie und Hennea sich die beiden Räume angesehen, die noch übrig blieben.
Der Schrank, in dem der Schatten seine Rune hinterlassen hatte, verriet ihnen nichts. In ein paar Jahren würde die sich auflösende Macht vielleicht klar genug sein, damit Seraph mehr Informationen aus den Holzdielen beziehen konnte, aber im Augenblick wollten sie ihr nur von der kürzlich
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