Rabenzauber
Anzeichen, dass jemand ihn beobachtete.
Er zog die schweren Balken, die das Tor verriegelten, aus ihrer Halterung und öffnete es.
»Ich habe niemanden gesehen«, sagte er zu seinem Bruder. »Sei wachsam.«
Der Hüter versetzte ihm ein zähnestarrendes Lächeln und führte Seide auf das Kopfsteinpflaster der Stadtstraße. »Kannst du feststellen, ob die Reisenden hier waren?«
Lehr kehrte wieder zu dem Pfad aus gestampfter Erde zurück, der vor dem Tor verlief. Er holte tief Luft und setzte sich auf die Fersen, um den Boden genauer zu betrachten. Es dauerte eine Weile, weil irgendwann in der vergangenen Woche ein Gewitter die Spuren verwischt hatte, nach denen er suchte.
»Sie sind hier«, stellte er schließlich fest und kehrte zurück, um Seides Zügel zu nehmen. »Sie sind hergekommen und haben die Stadt nicht wieder verlassen.«
Der Hüter sah sich in der stillen Stadt um. »Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Sache ist.«
Lehr empfand dasselbe, aber er würde es nicht zugeben. Er versuchte, das unheimliche Gefühl als Nebenwirkung von Jes’ Weisung abzutun - aber wenn das so war, warum hatte er dann das Bedürfnis, sich näher an seinen Bruder zu drängen?
Er sah sich noch einmal um, dann verließ er sich darauf, dass der Hüter gut aufpassen würde, damit er selbst sich darauf konzentrieren konnte, den Spuren zu folgen, die der Clan auf den schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen hinterlassen hatte.
Sie kamen an einem Gasthaus mit einem Stall vorbei, und der Hüter packte ihn am Arm.
»Warte kurz. Ich will etwas überprüfen«, sagte er, dann verschwand er im Stall. Er kam beinahe ebenso schnell wieder heraus. »Alle tot - aber es war keine Krankheit, die sie umgebracht hat. Nach den Maden zu schließen, sind sie mindestens eine Woche tot. Niemand hat versucht, sich von ihnen zu ernähren. Es gab auch ein paar tote Menschen. Einer wurde
erstochen, die anderen starben an der Seuche. Ich bin nicht nahe genug herangegangen, um sagen zu können, wie lange sie tot sind.«
»Suchen wir die Reisenden und kehren dann nach Hause zurück«, sagte Lehr und wurde schneller. Er glaubte nicht, dass sie den Clan von Rongier dem Bibliothekar lebend finden würden, aber er musste weitersuchen. Das war er Brewydd schuldig.
Als sie tiefer in die Stadt kamen, wurde der Gestank schlimmer. Einige Straßen waren mit aufgeschichteten Möbeln und Haushaltsgegenständen verbarrikadiert worden, um die Pestopfer fernzuhalten, aber das hatte nichts genutzt. Lehr und Jes sahen Aasvögel, Ratten und einmal einen streunenden Hund, aber keine Menschen.
Sie fanden Rongiers Clan auf einer der kleinen Flächen, die unbebaut geblieben waren, damit die Tiere der Stadtbewohner hier grasen konnten. Der Hüter kniete sich neben die erste Leiche und schnupperte, ohne sie zu berühren.
»Sie sind etwa eine Woche tot. Wie die Pferde.«
Lehr hockte sich neben eine Frau, die mit dem Gesicht nach unten lag; ihr helles Haar erinnerte ihn an das seiner Mutter. Sie war, wie der Rest von Rongiers Clan, nicht an der Seuche gestorben. Die Reisenden waren von den Menschen umgebracht worden, denen sie helfen wollten.
Er berührte ihr Haar - solange sie mit dem Gesicht nach unten lag, war sie eine Fremde. »Jemand glaubte, dass sie die Krankheit eingeschleppt hatten, wie sie das auch von den Pferden dachten, die du im Stall gefunden hast, und ich nehme an, von den Katzen, Hunden, Hühnern und Ziegen, die wir nicht gesehen haben.«
Dann drehte er die Leiche vorsichtig um, als ob es ihr wehtun könnte, wenn er zu grob war. Er hatte diese Frau beim Kochen neben seiner Mutter gesehen, oder wie sie einem kleinen
Kind das Hemd zurechtzupfte, aber er kannte ihren Namen nicht.
Er stand wieder auf und ging zu weiteren Leichen, setzte Namen zusammen für die Totenliste in seinem Kopf. »Hier ist Benroln«, sagte er.
Lehr sah an den toten Stadtbewohnern, die den Clanführer umgaben - und daran, wie sein Körper verstümmelt worden war -, dass Benroln heftig Widerstand geleistet hatte.
»Isfain«, bemerkte der Hüter mit so seltsamer Stimme, dass Lehr aufblickte. Isfain, erinnerte er sich, war derjenige, der Wache gehalten hatte, als man Jes mit dem Foundrael festhielt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Lehr.
Der Hüter nickte. »Ich dachte, ich wollte, dass er stirbt«, sagte er, dann ging er zu der nächsten Leiche. »Kors.«
Sie waren alle tot, Männer, Frauen und - das zerriss ihnen endgültig das Herz - auch die Kinder. Die rothaarigen
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