Rabenzauber
Zwillinge, die immer irgendwelchen Unfug im Kopf gehabt hatten, waren feierlich aufgebahrt, ihre Kehlen durchschnitten. Das Kleinkind, das immer am Daumen gelutscht hatte, wenn Lehr gerade hinsah, war zu einem kleinen, gebrochenen Häuflein Elend zusammengesackt.
Es gab noch mehr Stadtbewohner unter den Toten. Ein paar, die mit Schwertern bewaffnet waren, mochten Wachen gewesen sein, aber die meisten hatten sich nur mit Keulen oder Werkzeugen bewaffnet. Verzweifelte Menschen tun verzweifelte Dinge, sagte Papa oft.
Lehr wandte sich von der Leiche eines Mannes ab, der ein scharfes Sattlermesser in der Hand hatte, und wäre beinahe über eine Frauenleiche gestolpert.
Ihre eisblauen Augen hatten die Krähen geholt, aber er erkannte die schmale, scharfe Nase und den breiten Mund: Igraina, die ein besonders Vergnügen daran gefunden hatte, ihn herumzukommandieren und dabei ein wenig mit ihm zu
liebäugeln. Neben ihr lag der Clanschmied. Lehr erinnerte sich nicht an seinen Namen, jedoch an das schüchterne Lächeln des Mannes.
Als sie fertig waren, hinterließ der Hüter Reif auf dem Boden, den er betrat. Lehr wusste nicht, ob er das tat, weil er wütend oder traurig war. Es gab niemanden mehr, den der Hüter verteidigen oder an dem er sich rächen konnte. Nach den leeren Straßen zu schließen, die sie gesehen hatten, als sie durch die Stadt kamen, waren die Leute, die für diese Morde verantwortlich waren, sehr wahrscheinlich ebenfalls tot.
Nur Brewydd konnten sie nicht finden. Lehr betrachtete das nicht unbedingt als hoffnungsvolles Zeichen. Wahrscheinlich war sie unterwegs gewesen und hatte versucht, jemanden zu heilen, als der Wahnsinn die Stadtbewohner erfasst hatte.
»Es sind zu viele, um sie begraben zu können«, sagte Lehr hilflos. »Aber wir können sie nicht so liegen lassen.«
Der Hüter sah sich um. »Ich erinnere mich an … an Schlachtfelder voller Leichen. Ehrenhafte Soldaten, die nicht verdient hatten, als Aas für die Geier zurückgelassen zu werden. Komm her, Lehr. Stell dich neben mich, damit dir nichts passiert.«
Lehr trat so nahe, wie er es wagte, an seinen Bruder heran, bis die Kälte des Hüters ihm in die Finger biss und seine Angst es ihm schwer machte zu atmen. Seide legte bedrückt die Ohren an, blieb aber neben Lehr. Offenbar waren sie nahe genug, denn der Hüter begann zu singen, ein seltsames, tonloses Geräusch, das mehr an ein Wolfsheulen erinnerte als an ein Lied.
Es schmerzte Lehr bis ins Herz, und Tränen, gegen die er zuvor angekämpft hatte, liefen über seine Wangen, als wäre er nicht älter als Rinnie. Er hatte diese Menschen gekannt - hatte Feuerholz mit ihnen geholt, hatte an ihrer Seite gekämpft. Und nun waren sie alle tot. Waren gestorben bei dem Versuch, diese Stadt zu retten, die sie getötet hatte.
Als Antwort auf das Lied des Hüters begann der Boden zu beben.
Magie drang in einer plötzlichen, beinahe schmerzhaften Welle durch Lehrs Füße in ihn ein und brachte schließlich seine Ohren zum Klirren. Rings um die Leichen von Reisenden und Stadtbewohnern riss der Boden auf und verschlang sie, und danach zeigte nur noch aufgeworfene Erde, wo sie gelegen hatten.
Das Lied des Hüters endete.
»Was …« Lehr brach seine Frage ab und schob die Schulter unter seinen Bruder, als dieser bleich und schwitzend zusammensackte. Jes schluchzte heiser, und Lehr half ihm zu einer grob behauenen Bank im Schatten eines kleinen Ahornbaums.
»Ganz ruhig«, sagte er und kniete sich vor ihn. Er wünschte sich, er könne mehr tun. Aber Jes hatte sich ihm entzogen, sobald er auf der Bank saß, und Lehr wusste, dass er seinen Bruder mit einer Berührung nicht trösten konnte. »Sie haben jetzt keine Schmerzen mehr, Jes. Nichts kann ihnen mehr wehtun.«
Jes hob den Blick. »So viel Trauer«, keuchte er. »Brewydd, glaube ich. Ganz in der Nähe.«
Lehr erinnerte sich daran, dass Jes ein Empath war.
Er stand auf und sah sich langsam um. Wenn Jes spürte, dass Brewydd trauerte, bedeutete dies, dass die alte Frau immer noch lebte. Sein Blick fiel auf einen kleinen gedeckten Wagen, der von Hand oder von einem Pferd gezogen werden konnte - Brewydds Karis .
Er legte Jes Seides Zügel in die Hand. »Halte sie für mich«, bat er. »Seide ist wahrscheinlich ebenfalls unglücklich, Jes.«
Sein Bruder beugte sich vor, bis seine Stirn am Vorderbein der Stute ruhte. Sie drehte sich ein wenig, um mit der Schnauze seinen Rücken zu berühren.
Lehr kam zu dem Schluss, dass er für Jes so gut
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