Rabenzauber
seine Stimme klang ein wenig träumerisch. »Die des Roten Ernave und des Schattenkönigs, meine ich. Haben die Überlebenden ihren Helden begraben, oder hatten sie zu viel Angst vor der Leiche des Schattens? Gab es Aasfresser? Wölfe und Bergkatzen oder Wesen, die dem Schatten gedient hatten wie der Troll, den Seraph getötet hat?«
»Ich hätte die Toten liegen lassen«, sagte Rufort, der neben ihnen herritt. »Es wäre einfach viel zu viel Arbeit gewesen. Und es wäre ein jämmerlicher Lohn für Ernave und all die geliebten Toten gewesen, wenn die Überlebenden sich so sehr mit dem Begraben der Vergangenheit befasst hätten, dass sie darüber aus den Augen verloren, wie sehr sie eine Zuflucht
brauchten. Es heißt, ein Schlachtfeld sei einen Monat nach der Schlacht ebenso gefährlich wie während des Kampfs.«
»Krankheiten«, sagte Tier. »Da kann ich nur zustimmen. Es ist besser, die Lebenden zu retten und die Toten liegen zu lassen. Man kann sich der Verstorbenen in Liedern und Geschichten erinnern - das ist ein besseres Denkmal als jeder Grabstein.«
In der Ferne sahen sie tatsächlich die Überreste von Gebäuden, aber sie ritten nicht nahe genug heran, um mehr zu erkennen als ein paar geborstene Steinblöcke, die so groß zu sein schienen wie ihre Pferde.
»Ich kann es beinahe vor mir sehen«, sagte Phoran leise. »Den Rauch und die Schreie. Die schreckliche Last, gegen Feinde kämpfen zu müssen, die so schwer zu töten sind.«
Aber selbst ein so großes Schlachtfeld wie Schattenfall hatte irgendwann ein Ende. Vor ihnen gab es Bäume, die die Grenze zwischen der alten Überflutungsebene und dem Vorgebirge anzeigten, und hier zügelte Seraph ihr Pferd.
»Wartet«, sagte sie. »Dort ist etwas.«
»Ja«, stimmte Hennea zu. Sie ritt ein Stück nach rechts, wo drei kantige Felsblöcke aufeinandergestellt worden waren. Sie waren ein wenig in den Boden gesunken. Hennea reichte Jes die Zügel, schwang ein Bein über den Hals der Stute und sprang ab. Jes blieb sitzen. Hennea bückte sich, um etwas an den Steinen genauer sehen zu können.
»Doverg Ernave atrecht venabichaek«, las sie und übersetzte dann: »Hier verteidigte uns der Rote Ernave, bis er starb.«
»Sie haben also tatsächlich einen Stein aufgestellt«, sagte Tier. Er sah sich um, dann wendete er sein Pferd zu einem Kreis, und ein Ausdruck des Staunens trat auf seine Züge. Er lachte ungläubig. »Es sieht genau so aus, wie ich es mir beim Erzählen vorgestellt habe«, sagte er. »Ich frage mich, wie viel von der Geschichte von Schattenfall der Wahrheit entspricht.«
»Es gefällt mir hier nicht«, sagte Rinnie. »Und es wird bald regnen. Wenn die Sonne untergeht, will ich lieber nicht mehr hier sein. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
Hennea wischte sich die Hände ab. Jes reichte ihr die Hand, und diesmal schwang sie sich hinter ihn.
»Ich auch nicht«, sagte Seraph zu ihrer Tochter. Sie wollte so weit wie möglich von all den Gegenständen wegkommen, die sie mit ihren Geschichten der Toten von vor langer Zeit verlockten.
Am Ende des Schlachtfelds mussten sie jedoch erneut Halt einlegen, denn ihre Landkarten zeigten hier zwar eine Straße, aber sie konnten keine finden.
Rufort stieg ab und streckte sich, während Tier und die Frauen versuchten, die alten Landkarten mit der Gegenwart zu vergleichen. Der junge Gardist nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal der großen Ebene mit dem kurzen gelben Gras zuzuwenden.
Schattenfall.
Wie war ausgerechnet er, Rufort der Nichtstuer, zu einem solchen Abenteuer gekommen? Er war der dritte Sohn des fünften Sohns des Sept von Bendits Festung gewesen und hatte um alles, was er besaß, gegen Geschwister und Vettern kämpfen müssen, bis man ihn schließlich nach Taela verbannt hatte.
Als man ihm anbot, sich den Sperlingen anzuschließen, hatte er gehofft, dort einen Platz zu finden, an den er gehörte und an dem man ihn schätzte. Und der Pfad hatte ihn tatsächlich zu schätzen gewusst. Rufort war nicht dumm. Er hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass die Sperlinge bei diesem von den Meistern geführten Spiel nichts weiter als Wegwerfsoldaten waren, aber inzwischen war ihm auch klar geworden, dass es außer dem Tod keinen Ausweg aus der Geheimgesellschaft
gegeben hätte. Er hatte allerdings ohnehin keinen Grund zum Leben gehabt, und der Pfad hatte ihm eine Möglichkeit gegeben, seine aufgestaute Wut ein wenig auszuleben.
Es hatte zwei Ereignisse gebraucht, damit er
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