Rabenzauber
Tiers Schicksale waren miteinander verbunden; wenn sie den Schatten vernichteten, würden beide in Sicherheit sein. Brewydds letzte Botschaft wies entweder darauf hin, dass der Schatten sich in Colossae befand oder dass sie dort eine Möglichkeit finden würden, mit ihm fertig zu werden. Seraph warf einen Blick zu Tier und schaute schnell wieder weg, bevor er es bemerkte. Sie schwor sich, den Schatten zu finden. Sie würde ihn finden, und dann würde sie dafür sorgen, dass er sie und die Ihren nie wieder belästigte. Tier ritt an diesem Tag ganz allein an der Spitze. Er sprach nicht viel, und obwohl Seraph wusste, dass Schweigen für ihn ebenso angenehm sein konnte wie ein Gewitter von Worten, machte sie sich Sorgen um ihn. Aber sie wusste auch, dass es ihn mehr störte als ihm half, wenn sie sich um ihn sorgte, also ließ sie im Augenblick zu, dass er sie mied.
Der Wildpfad, dem sie folgten, führte sie schließlich zu einer grasbewachsenen Ebene von etwa einer halben Meile Breite und nach Seraphs Einschätzung drei Meilen oder mehr Länge. Seraphs Pferd tat vier Schritte auf die Wiese hinaus und blieb dann stehen. Ihr wurde klar, dass sie das Tier selbst gezügelt hatte, aber sie wusste nicht, warum.
»Ich kenne diesen Ort«, sagte Jes, der hinter Seraph neben Hennea hergegangen war.
Phoran kam als Nächster und zügelte sein Pferd direkt hinter Seraph. Er lenkte Klinge in einen raschen Kreis und spähte dabei in die Bäume, als erwarte er, dass dort eine Armee im
Hinterhalt lag. Aber es gab nichts außer einem sanften Wind, der die Wipfel der Nadelbäume bewegte.
Tier schaute zurück und sah, dass die anderen angehalten hatten. Er wendete Scheck und kanterte zu ihnen zurück.
»Schattenfall«, murmelte Ielian ehrfürchtig, als Tier näher kam.
»Irgendwo weiter vorn gibt es Überreste von Gebäuden«, sagte Tier. »Ich weiß allerdings nicht, ob wir nahe genug an ihnen vorbeikommen werden, um sie zu sehen. Wenn man der Karte glauben darf, führt unser Weg direkt durch dieses Tal. Zum ersten Mal kam ich aus einer Region etwa zwei Meilen nördlich von hier zu dieser Ebene, und ich machte mich sofort auf den Heimweg, ohne mir das Schlachtfeld näher anzusehen.«
»Es ist nur eine Wiese.« Kissel klang ein bisschen enttäuscht. »Obwohl sie größer ist, als ich dachte.«
»Nach fünfhundert Jahren ist nicht mehr viel geblieben«, wandte Toarsen ein. »Leder verfault und Stahl rostet.«
Er hatte recht, aber etwas rief nach Seraph. Sie stieg vom Pferd und machte ein paar Schritte vorwärts. Es war keine Magie, nicht wirklich, nur etwas, das ihre Verbindung zur Vergangenheit ansprach. Sie kniete sich hin, legte die Hand auf den Boden und hob dann einen goldenen Ring auf. Er hatte eine tiefe Kerbe, wie ein Messer oder Schwert es bei einem weicheren, beständigeren Metall verursachen würde. Sobald sie ihn berührte, versuchten noch mehr Gegenstände, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte immer geglaubt, das Lesen der Vergangenheit von Gegenständen wäre eine passive Sache, aber diese Überreste einer lange vergangenen Schlacht schrien danach, dass sie sie deutete.
»Sie rufen mich.« Sie fühlte sich, als wäre die Luft, die sie atmete, zu schwer. »All die Dinge, die hiergeblieben sind und Geschichten erzählen könnten, Geschichten, die an diesem
Ort ein Ende fanden.« Sie schloss die Hand um den Ring. »Er war zu alt, um zu kämpfen, aber es war sonst niemand mehr übrig. Nichts als alte Männer, Frauen und Kinder. Er hatte Arthritis in der rechten Schulter, also schwang er sein altes Schwert mit der linken Hand. Seine erste Frau, die schon in jungen Jahren seine Freundin gewesen war, hatte ihm diesen Ring geschenkt, als die Welt noch anders und er der privilegierte Sohn eines … einer Art von Tuchhändler war, aber das Tuch, mit dem er handelte, kam aus Übersee.«
Sie ließ den Ring fallen und stieg wieder aufs Pferd. »Es wird mehr als fünf Jahrhunderte brauchen, um Schattenfall zu läutern. Ich möchte nicht länger hierbleiben als nötig.«
Jes, der von einem Fuß auf den anderen getreten war, schwang sich, als sie weiterzogen, plötzlich hinter Hennea in den Sattel. »Ich kann auf diesem Boden nicht gehen«, erklärte er.
Gura zog den Schwanz ein und hielt sich dicht an Rinnies Pferd, statt in der Gegend herumzuspringen und alles zu erforschen, wie er es sonst tat.
»Ich frage mich, ob ihre Knochen immer noch hier sind«, sagte Tier, als sie weiter über das alte Schlachtfeld ritten, und
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