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Rabenzauber

Rabenzauber

Titel: Rabenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
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die Fragen stellte.
    »Es waren einmal zwei Brüder, geboren vom Abendstern, gezeugt vom Mond. Sie waren jeweils das Spiegelbild des anderen, ein heller Zwilling und ein dunkler. Wir nannten sie den Weber und den Pirschgänger, obwohl sie nicht so hießen.«
    »Warum habt ihr sie nicht beim Namen genannt?«, fragte Hennea.
    »Kennst du diese Geschichte?«, erwiderte er.
    »Nein.« Aber Hennea verzog das Gesicht, als versuche sie sich an etwas zu erinnern.
    »Ich habe noch nie zuvor vom Weber gehört«, sagte Seraph. »Nur vom Pirschgänger.«
    »Namen haben Macht.« Die Stimme des Gelehrten war so höflich und gleichmäßig wie sein kleines Lächeln. Seraph stellte fest, dass sein Gesichtsausdruck, den sie zu Anfang recht angenehm gefunden hatte, sie nun eher nervös machte.
    Er sprach mit der gleichen leisen Stimme weiter. »Die Namen der Zwillinge auszusprechen, würde bedeuten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und das sollte man nicht leichtfertig tun.«
    Als weder Seraph noch Hennea etwas sagten, fuhr er fort: »Der Weber hatte die Macht zu schöpfen. Wann immer er ein Wort aussprach oder einen Gedanken hatte, schuf er. Der Pirschgänger besaß den Schlüssel zur Zerstörung. Was immer der Weber schuf, der Pirschgänger legte die Anzahl seiner Tage fest, sodass die Schöpfungen des Webers nicht ins Unermessliche anwuchsen und das gesamte Sein zu Nichts geworden wäre.«
    »Daran erinnere ich mich«, sagte Hennea. Sie hatte die Hände an die Schläfen gelegt, als hätte sie Kopfschmerzen. »Daran erinnere ich mich. Wären der Schöpfung keine Grenzen gesetzt worden, hätte am Ende nichts mehr existiert.«
    Die Konzentration des Gelehrten auf Hennea begann Seraph zu beunruhigen. Obwohl seine Miene sich nicht änderte, beugte er sich jetzt ein wenig auf die jüngere Frau zu. Seraph konnte keine Magie erkennen, die von ihm ausging, aber sie behielt ihn gut im Auge.
    »Eines Tages war der Pirschgänger unterwegs und traf eine
Frau, die gerade ihre Kleidung wusch. Sie kam ihm schöner vor als alles andere, was sein Bruder je erschaffen hatte, und er nahm sie zur Frau.
    Solange sie lebte, war der Pirschgänger überglücklich, aber da sie eine Schöpfung seines Bruders war, waren ihre Tage von Geburt an gezählt. Als sie eine sehr, sehr alte Frau war, ging der Pirschgänger zu seinem Bruder und flehte ihn an, die Macht der Zerstörung zu brechen, die eigene Magie des Pirschgängers, damit sie nicht sterben musste.
    Aber das war etwas, was der Weber nicht tun konnte. Wenn er diese Macht brach, würde er sowohl sich selbst als auch seinen Bruder vernichten. Denn damit das gesamte Sein weiterhin existiert, darf die Macht des Schöpfers niemals größer sein als die des Zerstörers.
    Da der Weber also auch seine vollkommenste Schöpfung nicht rettete, schwor der Pirschgänger, alle Schöpfungen seines Bruders zu vernichten. Aber er wartete, solange seine Frau noch lebte, denn er konnte es nicht ertragen, auch nur einen Moment mit ihr zu verlieren, bevor es sein musste.
    Als sie im Sterben lag, gab die Frau ihrem Mann ein Getränk, das der Weber vorbereitet hatte, und der Pirschgänger schlief ein, als sie ihren letzten Atemzug tat.«
    Es war eine romantische Geschichte, aber der Gelehrte erzählte sie auf die gleiche trockene Art, mit der Jes seine Lektionen rezitiert hatte - vielleicht sogar eine Spur weniger mitreißend.
    »Der Weber wusste, ohne seinen Bruder würde seine Macht das gesamte Sein ebenfalls zerstören, also trank er die gleiche Tinktur, die der Pirschgänger getrunken hatte. Und während er schlief, träumte er ein Gewebe, das sie beide zudeckte und seine Schöpfungen vor ihnen beschützen sollte, wenn sie wieder erwachten.«
    Der Gelehrte hörte auf zu sprechen.

    »Das klingt nicht wie das Ende der Geschichte«, sagte Seraph.
    »Die Geschichte vom Weber und dem Pirschgänger wird kein Ende haben, ehe das gesamte Sein endet«, erwiderte der Gelehrte. »Und zu diesem Zeitpunkt wird es niemanden mehr geben, der das Ende erzählen kann.«
    Hennea seufzte und wollte etwas sagen, hielt aber inne, als sie ein Geräusch von der Treppe hörten.
    Gura war der Erste, der sie erreichte und winselnd und schwanzwedelnd versuchte, Seraph auf den Schoß zu klettern. Da er um einiges schwerer war als sie, fiel es ihr nicht leicht, sich zu retten, bis Tier den Hund am Halsband wegzog.
    »Gura, sitz«, sagte er, und der Hund ließ sich nieder und wirkte schuldbewusst. Seraph setzte sich wieder gerade hin und rieb Guras Seite

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