Rabenzauber
mit der Zehenspitze, und er wedelte erneut fröhlich mit dem Schwanz.
Jes war mit Tier gekommen, und nun starrte der Hüter den Gelehrten an, an dessen Miene sich nichts geändert hatte - ebenso wenig wie an seiner Konzentration auf Hennea.
»Wo sind die anderen?«, fragte Seraph.
»Ich habe sie im Lager gelassen, wo sie Fleisch braten. Da wir eine Weile hier sein werden, hat Lehr einen Rehbock geschossen. Jes und ich wollten euch zum Abendessen holen.« Tier warf einen Blick zu der Illusion, dann sah er stirnrunzelnd noch einmal hin. »Euer Freund kann gern mitessen.«
»Danke«, sagte der Gelehrte und wandte sich Tier zu, als hätte er ihn gerade erst bemerkt. »Aber ich brauche keine Nahrung, und ich darf die Bibliothek nicht verlassen.« Er hielt kurz inne. »Es ist gut, dass ihr außerhalb der Stadt lagert. In der Nacht wandeln die Toten durch die Straßen.«
»Es ist eine Illusion«, sagte Hennea zu Tier. »Eine von Hinnums Illusionen.«
»Er hat uns eine Geschichte erzählt«, sagte Seraph. »Ich
denke, du solltest sie ebenfalls hören. Gelehrter, würdest du bitte die Geschichte vom Weber und dem Pirschgänger erzählen?«
»Selbstverständlich.«
Als der Gelehrte fertig war, rieb sich Tier das Kinn und sagte: »Der Pirschgänger war also nicht etwas, das die Zauberer dieser Stadt schufen?«
»Nein«, erwiderte der Gelehrte.
»Die Geschichten sind falsch«, sagte Seraph.
»Warum sind die Zauberer dann gegangen?«, fragte Tier. »Warum haben sie die Stadt auf diese Weise erstarren lassen? Warum ist die Bibliothek das Einzige, das nicht in der Zeit erstarrt ist?«
»Es gab hier nichts mehr für sie. Das war ein Teil des Preises, den sie für ihre Taten zu zahlen hatten. Aber sie konnten nicht ertragen, die Bibliothek für immer zu verlieren.«
Hennea verzog das Gesicht. »Wenn sie den Pirschgänger nicht geschaffen haben, was hatten sie sich denn sonst vorzuwerfen?«
Zum ersten Mal verlor die Illusion ihr Lächeln, und etwas sehr Altes blickte aus den jungen Augen. »Sie haben die Götter getötet«, flüsterte er, und dann war er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Der Hüter knurrte.
Im Lager erzählte Tier den anderen die Geschichte des Pirschgängers, während sie Fleisch über dem Feuer brieten. Soweit Seraph es sagen konnte, verwendete er dazu die gleichen Worte wie zuvor der Gelehrte.
»Ich dachte, der Pirschgänger sei ein böses Wesen«, sagte der Kaiser und verfütterte den letzten Rest seines gebratenen Fleischs an Gura, der es begeistert annahm. Der Hund hatte auf ihrer Reise entdeckt, dass Phoran und seine Leibwächter
nicht so abgehärtet gegenüber bittenden Blicken waren wie seine Familie, und diese neue Macht bei jedem Abendessen ausgenutzt.
»Das war er zumindest in den Geschichten, die ich von meinem Clan hörte«, stimmte Seraph zu.
»Es war also nicht die Erschaffung des Pirschgängers, die zum Sturz der Zauberer von Colossae führte?« Lehr lehnte sich auf die Ellbogen zurück und starrte nachdenklich ins Feuer.
»Ellevanal sagt, die Reisenden hätten ihre Götter getötet und verschlungen.« Seraph stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die Hände. »Mein Vater meinte immer nur, dass es keine Götter gebe, aber Hennea - und der Gelehrte - behaupten, die Götter seien tot.«
»Ich weiß nicht mehr, wo ich das gehört habe«, sagte Hennea, und Jes rieb ihr sanft die Schulter.
Hennea war sehr still gewesen, seit sie die Bibliothek verlassen hatten, aber das war für einen Raben nicht ungewöhnlich. Seraph hätte ihren Verdacht, dass die andere Frau sich über etwas aufregte, bald wieder abgetan, aber Jes schien ebenfalls um sie besorgt zu sein.
»Der Schatten ist jedenfalls böse«, verkündete Lehr entschlossen. »Er hat eine ganze Stadt getötet, eine Siedlung, die größer war als Redern. Er tötete Benroln, Brewydd und alle anderen aus Rongiers Clan. Er brachte den Zauberern des Pfads bei, wie man Weisungen stiehlt.«
»Der Schatten ist böse«, stimmte Seraph zu.
Phoran räusperte sich, und Seraph sah ihn an. Er warf einen Blick zur untergehenden Sonne und sagte: »Ich sollte erwähnen, dass letzte Nacht das Memento wieder aufgetaucht ist. Ich fragte es, ob es wisse, wer der Schatten sei, aber es verneinte. Vielleicht fällt ja einem von euch eine Frage ein, die ich ihm heute Nacht stellen kann?«
»Ja«, antwortete Seraph, bevor jemand anders etwas sagen konnte. »Ich würde gern mehr über den zweiten Teil des Bannes wissen, mit dem
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