Rabenzauber
als einen bunten Kilt, den er mit einem schlichten braunen Gürtel gebunden hatte. Selbst seine Füße waren nackt.
»Wer bist du?«, fragte sie und sammelte sich, falls sie ihre Magie brauchen würde.
Sein dünnes, höfliches Lächeln wurde ein wenig ausgeprägter, und er zog den Kopf ein, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. »Du kannst mich Gelehrter nennen. Darf ich dir helfen zu finden, was du suchst?«
Erst als ihre anfängliche Angst vergangen war, erkannte sie, was ihre Sinne schon versucht hatten, ihr mitzuteilen: Er war kein Mensch.
»Eine Illusion«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihn leicht zu berühren. Seine Haut war weich, warm und gab unter ihrer Berührung nach, als wäre er ein echter junger Mann und kein magisches Konstrukt.
»Kann ich dir helfen? Du scheinst etwas zu suchen.«
»Ich muss mehr über die Weisungen herausfinden«, sagte sie. »Die Weisung meines Mannes wurde beschädigt, und ich muss sie instand setzen.«
»Du hast viele Weisungen«, stellte der Gelehrte neutral fest.
»Ich bin Rabe«, erwiderte Seraph verwirrt.
»Du trägst viele Weisungen an dir.«
Unwillkürlich berührte sie den Beutel, der die vom Pfad
geschaffenen Edelsteine enthielt. Wie hatte ein illusionäres Gebilde das spüren können? Sie kniff die Augen zusammen. »Ja. Viele Reisende sind ermordet worden, und man hat ihre Weisungen an Edelsteine gebunden, damit Solsenti -Zauberer sie benutzen konnten. Ich habe diese Steine hier. Ich hoffe, wenn ich Hilfe für meinen Mann finde, kann ich diese Weisungen vielleicht freilassen, wie es sich gehört.«
Der Junge wartete schweigend. Sein kleines Lächeln blieb unverändert, und Seraph ging inzwischen davon aus, dass sie sich mit ihrer Vermutung geirrt hatte, es wäre intensiver geworden.
»Warum haben sie dich hiergelassen?«, fragte sie.
»Ich bin hier, um anderen zu helfen, in der Bibliothek Informationen zu finden.«
»Du weißt, welche Informationen hier aufbewahrt werden?« Seraph spürte ein erneutes Flattern jener aufgeregten Hoffnung, die beim ersten Anblick dieser riesigen Bibliothek erloschen war. Wenn sie und Hennea die Bücher nach allem durchsuchen mussten, was sie entziffern konnten, um es dann durchzulesen, würde Tier an Altersschwäche sterben, bis sie fertig wären.
»Ich weiß, was sich in der Bibliothek befindet«, antwortete er.
»Gut«, sagte sie. »Weißt du auch, wo Hennea ist? Meine Freundin, die mit mir hereingekommen ist?«
Diesmal antwortete er nicht sofort. »Ich weiß, wo der Rabe ist«, sagte er schließlich.
»Bring mich hin«, sagte sie. Das hier war erheblich besser als ein Notizbuch mit den Kritzeleien eines Zauberers.
Hennea hatte sich entschieden, das Tiefparterre zu durchsuchen. Sie fanden sie an einem Tisch sitzend, wo sie ein magisches Licht über einem lose gebundenen Papierstapel schweben ließ. Ihr Haar war zerzaust, als hätte sie einige Zeit damit verbracht, unter Tischen herumzukriechen.
»Rabe«, sprach der Gelehrte sie an, bevor Seraph sie ankündigen konnte. »Du bist hier willkommen.«
Hennea markierte die Stelle im Buch mit dem Finger und blickte mit einer Miene milder Neugier auf. Sie wirkte kein bisschen überrascht, dass ein Fremder sie ansprach. Seraph hatte die Souveränität des anderen Raben niemals mehr bewundert als in diesem Augenblick.
»Das hier ist der Gelehrte«, sagte Seraph und fragte sich, ob Hennea wohl das Gleiche sah wie sie.
Hennea runzelte die Stirn, legte die Papiere beiseite und verlagerte das Gewicht ein wenig, als sie den Jungen anschaute. »Du siehst aus, als sollte ich dich kennen«, sagte sie schließlich.
»Nein, er fühlt sich so an«, verbesserte Seraph hilfreich.
Hennea richtete sich auf. »Hinnum«, sagte sie.
»Der Gelehrte ist hier, um den Leuten zu helfen, Informationen zu finden.« Seraph lächelte. »Phoran sagte, Zauberer seien meist sehr gut organisiert.«
Der Gelehrte führte sie wieder in den Hauptraum, den ersten Raum, in dem sie gewesen waren. »Das hier ist ein guter Platz, um anzufangen«, sagte er. »Was möchtet ihr wissen?«
»Erzähl uns vom Pirschgänger«, bat Hennea.
Er deutete eine Verbeugung an. »Bitte setz dich, Rabe.«
Er sprach jetzt nur noch Hennea an, als bemerkte er nicht einmal mehr, dass Seraph anwesend war. Sein Blick war auf Henneas Gesicht gerichtet. Als Seraph sich auf die Kissen der Bank neben Hennea setzte, fragte sie sich, ob er vielleicht so geschaffen worden war, dass er immer nur auf die Person achtete, die
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