Rabenzauber
Schreckliche Dinge geschahen, wenn ein Rabe die Beherrschung verlor.
Sie folgte einem schmalen Weg hinter eine Rosenhecke, fand einen kleinen Brunnen und setzte sich davor auf eine Steinbank. Die Rosen in der Hecke waren weit zur Sonne geöffnet, sonderten aber keine Spur von Duft ab.
Es dauerte lange, aber schließlich drang der Friede der Szenerie ihr bis in die Knochen, und sie fühlte sich wieder mehr wie sie selbst. Sie steckte eine Hand ins Wasser des Brunnens und zog sie dann wieder heraus, damit sie trocknete. Es gab eine Zeitbarriere zwischen ihrer Hand und dem kühlen Wasser, in dem einmal kleine Fische gelebt hatten. Sie konnte das Wasser nicht berühren, weil es nicht in dieser Zeit existierte, jedenfalls nicht wirklich.
Die Erinnerung daran, wie dieser Zauber funktionierte, gehörte ihr. Sie konnte ihn brechen, wenn sie wollte. Sie erinnerte sich nicht, wo sie das gelernt hatte; gestern hatte sie es noch nicht gewusst.
Sie hörte ihn nicht kommen. Sie bemerkte ihn nicht, bis er die Hand um ihr Handgelenk schloss und sie auf die Beine zog.
»Jes?«, flüsterte sie, aber sie wusste es besser. Die Hand, die sie so sorgfältig gepackt hatte, brannte vor Kälte.
»Nein.« Der Hüter sah ihr ins Gesicht, während nackte Angst über sie hinwegwusch, durch sie hindurchfuhr, ohne sie wirklich zu berühren, denn sie konnte ihn niemals fürchten. »Jes ist, wo ihm nichts wehtun kann.«
Sie hatte sich geirrt - sie war nicht immun gegen Angst. Die Worte des Hüters erschreckten sie.
»Das darfst du nicht tun«, sagte sie. »Du kannst ihn nicht wegschließen. Er ist ein Empath - er muss bei dir sein.«
Der Hüter verzog den Mund zu einem Ausdruck, den sie noch nie auf Jes’ Gesicht gesehen hatte, obwohl sie ihn kannte. Es war ihr schmerzlich vertraut. Wo hatte sie das schon einmal vor Augen gehabt?
»Ich brauche keine Ratschläge von dir , wie ich Jes behandeln soll«, sagte der Hüter, und ihr wurde schließlich klar, dass er wütend auf sie war - so wütend, dass er Jes davon hatte ausschließen müssen.
»Was ist denn?«, fragte sie. »Sind Tiers Anfälle schlimmer geworden?«
Er fauchte sie an, das Zischen einer zornigen Bergkatze aus einem Menschenmund, dann drehte er sich auf dem Absatz um, ging davon und zerrte sie hinter sich her.
»Papa stirbt - oder wusstest du das nicht?« Seine Stimme war leise und drohend. »Bedeutet dir das nichts?«
»Du solltest mich besser kennen«, sagte Hennea und versuchte, seinen Zorn mit ihrer Beherrschung zu beantworten.
Als wäre ihre ruhige Stimme mehr, als er ertragen konnte, riss der Hüter sie zu sich herum und schüttelte sie kurz. Diese kleine Gewalttätigkeit schien seine Frustration jedoch nur noch zu vergrößern - er knurrte tief und zornig.
Er senkte den Kopf und küsste sie. Es war ein harter Kuss, aus Zorn geboren. Sie fühlte, wie ihre Unterlippe unter dem Druck aufriss. Als er ihr Blut schmeckte, zögerte er, dann stieß er sie von sich weg, ließ aber ihr Handgelenk nicht los.
Er blieb noch einen Moment reglos stehen, dann ging er weiter. »Papa lässt seine Laute im Gepäck, und meine Mutter weint sich jeden Abend in den Schlaf. Beide verstellen sich
den ganzen Tag, damit sie uns nicht wehtun.« Seine Stimme war so leise, dass sie sie ebenso spürte, wie sie sie hörte.
»Das ist jetzt nicht anders als heute früh«, sagte Hennea. »Aber deine Mutter und ich kommen den Antworten, die wir brauchen, näher. Wir wissen, wer der Schatten ist. Hüter …«
Sie brach ab, denn plötzlich erkannte sie die Straßen, über die der Hüter sie führte, sie wusste, wohin sie gingen - und sie hatte keine Ahnung, woher das kam.
Sie blickte auf zu Jes’ Gesicht und sah, dass der Hüter ihr jetzt nicht zuhören würde, nicht, solange er seine Wut nicht ausgetobt hatte - und vielleicht nicht einmal dann. Es war nicht gut, dass er Jes nicht an die Oberfläche ließ. Starke Gefühle bildeten eine solche Gefahr für den Adler: Liebe, Hass … und Verrat. Wie er ihr Handgelenk gepackt hielt, gab ihr allerdings Hoffnung: Nicht ein einziges Mal war sein Griff fest genug gewesen, um ihr einen blauen Fleck zu verursachen.
Sie behielt diese Hand im Auge und ließ sich von Jes zum Ende der Straße führen, wo ein Tempel stand, der ganz ähnlich aussah wie der, den sie an ihrem ersten Tag in Colossae gefunden hatten. Jes zerrte sie durch die offenen Türen des Tempels in einen Vorraum mit dicken Teppichen. Dann gingen sie über eine zweite Gruppe von Stufen, vier
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