Rabenzauber
die Wange gegen eine Wand lehnen konnte.
»Ich sollte tot sein«, sagte sie ruhig und drückte die Haut an den kalten Marmor. Dann schlug sie so fest sie konnte mit der flachen Hand gegen die Wand und genoss den Schmerz, der so viel leichter auszuhalten war als ihre Erinnerungen. »Ich sollte tot sein!« Sie schrie es heraus, spürte, wie es durch ihre Lunge toste und ihr ein wenig Druck nahm. Sie hätte die Wand noch einmal geschlagen, diesmal mit der Faust, aber Jes fasste sie sanft am Handgelenk, öffnete ihre Finger und legte ihre Handfläche an die Wand, bevor er sie wieder losließ.
Sie starrte ihre Hand an.
»Ich bin so alt! Ich habe so viele Male versagt, ich …« Sie hielt inne. Sie hatte nicht das Recht, ihn mit ihrem Schmerz zu belasten; er hatte genug eigenen. Sie würde so viel wiedergutmachen, wie sie nur konnte. »Ich bin keine Göttin mehr, nur sehr alt.« Nein, sie musste aufhören, vor sich hin zu schwafeln. Sie holte tief Luft und spürte, wie sich ihr Gesicht entspannte, als sie die Beherrschung wiedererlangte. »Ich bin ein so jämmerliches Geschöpf, dass ich nicht einmal den Solsenti -Zauberer Volis töten konnte, denn ich war nicht imstande, mich von seinem Bann zu befreien. Ich dachte, ich könnte deiner Mutter zumindest helfen zu verstehen, was mit Tier geschah. Ich dachte nicht, dass sie ihn retten könnte, aber ich wollte, dass sie zumindest die anderen Clans benachrichtigte.«
Sie machte eine hilflose Geste. »Ich hoffte, dem Pfad und dem Schatten ein wenig Ärger machen zu können, nichts als kleine Schläge, verstehst du, weil ich nicht mehr ausrichten
konnte als das. Ich bin nicht daran gewöhnt, um Hilfe zu bitten oder welche anzubieten. Reisende sind keine großzügigen Menschen. Sie tun, was sie tun müssen, wie ihre Geschichte es verlangt, aber sie haben keine Freude daran. Ich hatte nicht erwartet, dass deine Mutter mir helfen würde.«
Sie musste noch einmal tief Luft holen, damit sie sich zusammennehmen konnte. Sie war froh, dass er hinter ihr stand, damit sie ihn nicht ansehen musste. »Ich hätte nicht erwartet, was geschah - aber ich habe ganz bestimmt nicht einfach untätig dagesessen, während deine Familie ihr Leben aufs Spiel setzte, Jes. Ich habe ihnen mit all meiner Kraft geholfen.«
Sie hörte auf zu reden, weil es nichts mehr zu sagen gab und weil sie sich, wenn sie auch nur einen einzigen weiteren Satz sagen müsste, die Kehle wund schreien würde. Sie hoffte, dass ihre Worte genügten, damit Jes das fragile Gleichgewicht, das er so viel länger gewahrt hatte als die meisten seiner Art, behalten konnte. Sie hätte sich von ihm fernhalten sollen, hätte gehen sollen, nachdem sie sich das erste Mal geküsst hatten.
»Ich habe dich noch nie weinen sehen«, sagte Jes liebevoll, dann legte er ihr die Hand an die Wange. Als er ihre Haut berührte, gab er ein leises Zischen von sich, wie jemand, der sich an heißer Asche verbrannt hat.
Sie versuchte, ihre Gefühle zu beherrschen, versuchte sich ihm zu entziehen, damit sie ihm nicht wehtat. Auf keinen Fall wollte sie ihm noch mehr wehtun.
»Schon gut«, sagte er, legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie um.
Sie wehrte sich, denn sie wollte nicht, dass er sie mit fleckigem Gesicht und geschwollenen Augen sah. Sie wollte die Distanz nicht erkennen müssen, die das Wissen darüber, was sie einmal gewesen war, zwischen sie schob. Aber er war stärker
als sie und gab nicht nach. Am Ende kam sie zu dem Schluss, das bisschen Würde, das ihr noch geblieben war, zu behalten und nicht mehr gegen ihn anzukämpfen.
Sein Gesicht war ihrem zu nah, als dass sie seine Miene wirklich erkennen konnte, sie sah nur samtdunkle Augen, bevor er den Kopf senkte, um sanft über den Riss in ihrer Lippe zu lecken.
»Ich will dir auch nicht wehtun«, sagte er. »Das will keiner von uns. Es tut mir leid. Ich glaube dir, ich glaube dir. Ich war beinahe sicher, dass du uns nichts vormachen würdest, aber der Hüter musste es ebenfalls glauben. Er wollte mich nicht anhören. Beruhige dich.«
Er küsste sie - ein Kuss, der sich von seinem letzten unterschied wie ein Palast von einem Misthaufen: geschlossener Mund und sanfte Lippen, zart und liebevoll.
»Meine Mutter sagt, Raben können gut Geheimnisse bewahren. Ich glaube, sie hat recht«, murmelte er. »Mein Vater sagt, es sei gefährlich, Geheimnisse vor sich selbst zu haben. Ich glaube, das stimmt ebenfalls.«
Er nahm die Hände von ihren Schultern, als sie aufhörte, sich ihm
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