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Rabenzauber

Rabenzauber

Titel: Rabenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
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er sie vor allem schützen - waren zu viel für sie.
    »Ja, das ist es«, sagte er, als sie schluchzte, und stand wieder auf, damit sie ihr Gesicht an seine Brust drücken konnte. »Wir weinen ebenfalls, der Hüter und ich.« Er wiegte sie sanft und sang ein Schlaflied, wie eine Mutter, die ein übermüdetes Kind beruhigen will. Er war kein Barde, aber er hatte eine schöne Stimme.
    Als sie sich von ihm löste, wischte er ihr die Wangen mit den Händen ab. »Du musst ihnen verzeihen«, sagte er. »Sie sind lange tot. Und dein Zorn tut nur dir weh. Vergib ihnen, dass sie gestorben sind und dich zurückließen. Vergib Hinnum, wenn er es denn war, der dich zu sehr liebte, um dir den Tod zu erlauben, mit dem du deinen Schmerz lindern wolltest.«
    Hennea fühlte sich wund. »Du bist ein Kind«, flüsterte sie. »Wie kannst du solche Dinge wissen?«
    Der Schritt, den sie von ihm weg machte, war mehr ein Stolpern als die entschlossene, distanzierende Bewegung, die sie geplant hatte, aber er genügte. Seine Berührung war zu beunruhigend, ihr Bedürfnis danach zu groß.
    Er lächelte. »Einige Wahrheiten sind wahr, ganz gleich, wer sie ausspricht. Mein Vater kennt viele davon. ›Verzeihen nützt dir mehr als denen, denen du verzeihst‹, gehört zu seinen liebsten Sprichwörtern.«
    Sein Lächeln verschwand, und seine Augen wurden dunkler. »Du hast so viel verloren«, sagte er, und sie wusste nicht, wer da sprach, Jes oder der Hüter. »Hast du denn hinterher gar nichts mehr gefunden? Wurde dir nichts mehr geschenkt?«
    Sie starrte ihn an und versuchte, ihre Würde zu behalten, aber er wartete geduldig, ein Leuchten in den Augen.
    »Du«, sagte sie.

    Er lächelte wieder und kam auf sie zu. Als er sie in eine Umarmung zog, die mehr überschwänglich als sinnlich war, flüsterte er: »Wenn du das nächste Mal würdevoll aussehen willst, solltest du vielleicht vorher deine Bluse wieder zubinden.«
    Er lachte, als sie ihn mit einem empörten Schnauben wegstieß. »Komm«, sagte er. »Ich weiß eine Stelle, die sich für das, was ich vorhabe, besser eignen wird als dieser Marmorboden. Ich habe mich ein bisschen umgesehen, bevor uns auffiel, dass das Gesicht der Statue deines war - die schwarze Farbe hat uns zunächst verwirrt.«
    »Du hast das Gesicht einfach nicht beachtet«, entgegnete sie, und er warf den Kopf zurück und stieß dieses von Freude erfüllte, jubilierende Lachen aus.
    »Eifersüchtig auf eine Statue?«, fragte er und hob sie hoch. »Ein Mann möchte etwas Weicheres und Wärmeres haben als Marmor - ganz gleich, wie schön er sein mag.«
    Sie ließ sich von ihm die Stufen zum Podium hinauf und durch die halb verborgene Tür dahinter tragen. Er brachte sie in einen Raum mit einem großen, in den Boden eingelassenen Becken. Das Nachmittagslicht fiel aus verborgenen Oberlichtern aufs Wasser und verlieh ihm ein geflecktes Aussehen.
    »Ich erinnere mich, dass das hier immer mein Lieblingsraum war«, sagte sie, als er sie auf eine der dicken Matten auf dem Boden legte.
    Der Hüter vergrub sein Gesicht unter ihrem Haar, zwischen ihrem Hals und der Schulter, und atmete tief ein. »Ich liebe deinen Duft«, knurrte er.
    »Warte«, sagte sie und entzog sich ihm wieder.
    Er ließ sie gehen, auch wenn er die Fäuste ballte und das Gesicht verzog.
    »Ich muss es dir sagen«, erklärte sie. »Ich muss es Jes sagen.«

    »Jes hört dich«, knurrte der Hüter und drehte sich, bis er auf dem Bauch lag, das Gesicht in den Armen verborgen. »Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«
    Hennea setzte sich neben ihn und rieb ihm den Rücken, aber dann zog sie die Hand zurück, weil es sie ablenkte, ihn zu berühren und zu spüren, wie er vor Leidenschaft zitterte - und sie wusste, er würde verstehen müssen, was sie war, bevor er sich ihr so verpflichtete.
    »Es gab sechs von uns in Colossae. Rabe, Adler, Eule, Kormoran, Lerche und Falke. Wir sorgten durch ein Gleichgewicht unserer Macht für die Sicherheit der Welt.«
    Sie zog die Beine an und machte sich klein, während sie ihre neu gefundenen Erinnerungen sortierte und daraus eine Geschichte entwickelte, die Jes verstehen konnte, ohne sich in nutzlosen Einzelheiten zu verlieren.
    »Colossae war meine Stadt, und ich liebte sie. Ich liebte die Zauberer, die hier lebten. Sie baten mich um Macht, und ich gewährte sie ihnen.«
    Der Hüter drehte sich auf die Seite, damit er sie ansehen konnte. Sein Körper verlor langsam die Anspannung der Leidenschaft.
    »Das Einzige, was ich mehr

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