Rabenzauber
Ielian ihn hören konnte.
Der kleinere Mann machte eine unhöfliche Geste, dann wartete er, bis die beiden anderen ihn eingeholt hatten.
»Ich hätte nie gedacht, dass die Aufgabe eines Leibwächters interessanter sein würde, als für den Pfad zu arbeiten«, stellte er fest.
»Besser«, ergänzte Rufort.
»Mmm.« Ielian sah sich um, als sie eine Kreuzung erreichten, und hielt nach Gefahren Ausschau. Auch Lehr war in dieser Stadt immer noch nervös. »Aber ein Sperling zu sein war besser, als für den Verwalter meines Onkels als Schreiber zu arbeiten. Und besser bezahlt.«
Rufort erstarrte und kniff die Lippen zusammen, aber bevor Lehr fragen konnte, was ihn beunruhigte, entspannte er sich wieder. »Das hier ist wirklich eine Geschichte, die ich einmal meinen Enkeln erzählen kann«, sagte er. »Und sie werden so tun, als glaubten sie mir, weil ihre Mutter sie angewiesen hat, nett zu dem alten Dummkopf sein, damit sie sich in Ruhe ums Abendessen kümmern kann.«
Seine Mutter stand oben an der Treppe im Hauptraum der Bibliothek, als wolle sie gerade selbst ins Lager gehen. Der junge Mann, der sich Gelehrter nannte, war bei ihr.
Seraph sah sie alle an und trat ein Stück zurück. Ohne ein Wort winkte sie sie die Treppe hinauf und in die Bibliothek, wo sie sich auf Bänke, Hocker und Tische setzten.
Lehr glaubte nicht, dass Hennea wollte, dass er sie Mutter zuflüstern hörte: »Du weißt es, nicht wahr? Du weißt von mir.«
Lehr hatte einen Sitzplatz gefunden, und so konnte er beobachten, wie seine Mutter Henneas gerötete Augen und Jes’ entspannte Haltung zur Kenntnis nahm. Er war nicht sicher, ob sie ihnen ebenfalls ansehen konnte, was sie getan hatten, aber er traute es ihr durchaus zu.
Mutter lächelte kühl, aber Lehr merkte ihr an, dass sie über etwas erfreut war - was ihm nach all den Vorträgen, die Papa beiden Jungen darüber gehalten hatte, wie man Frauen behandelte, ein wenig ungerecht vorkam.
Dann sagte sie etwas sehr Seltsames. »Hennea, du solltest besser als alle anderen wissen, dass zu einem Raben auch Geheimnisse gehören.«
Papa setzte sich auf einen der Tische, die Beine über Kreuz. Phoran saß schon auf dem Boden, und Rinnie hatte sich neben ihm zusammengerollt und den Kopf auf sein Knie gelegt. Gura ließ sich seufzend auf Phorans anderer Seite nieder und nahm das freie Knie.
Für Lehr sah es so aus, als wollte der Gelehrte neben Mutter stehen, aber sie schickte ihn ebenfalls zu einer Bank.
»Ich hatte einen produktiven Tag«, berichtete sie und betrachtete dabei forschend Papas ausgemergeltes Gesicht. »Aber warum erzählt ihr mir nicht erst, was ihr gefunden habt? Jes?«
Jes grinste breit, und Lehr wartete einen Augenblick entsetzt darauf, was sein Bruder sagen würde. Mit einem Barden
als Vater hatten sie alle gelernt, nicht zu lügen. Aber Jes konnte manchmal auch zu ehrlich sein.
»Wir haben den Tempel des Raben gefunden«, berichtete Jes. »Nicht weit von hier.« Er schaute auf Hennea herab. »Anders als der Tempel der Eule, alles schwarzer und weißer Stein, aber die gleiche Idee.«
Lehr bemerkte Henneas Erleichterung und wusste, dass sie die gleichen Befürchtungen gehabt hatte wie er. Unerwartet trafen sich ihre Blicke. Sie errötete, dann lächelte sie schuldbewusst.
»Tier?«, fragte seine Mutter.
»Lehr hat herausgefunden, worum es bei diesen zerstörten Häusern geht«, sagte Papa.
Mutter schaute Lehr an, also berichtete er von dem Zaun und der Form des Hauses, das einmal in der von ihm entdeckten Lücke gestanden hatte.
»Wir bringen Rongiers Mermora morgen hin«, war Seraphs einzige Reaktion, als er fertig war.
»Ich dachte, du stammtest aus dem Haus von Isolda«, stellte der Gelehrte misstrauisch fest. »Wieso hast du Rongiers Mermora? «
Mutter warf ihm einen ihrer Blicke zu. »Ich sagte dir doch, dass der Schatten systematisch Reisende getötet hat. Er brachte die Letzten aus Rongiers Clan vor ein paar Wochen um. Die Mermora kam zu mir.«
»Rongiers Linie ist tot?«
»Ich habe zweihundertneunundzwanzig Mermori «, sagte Mutter. »Diese Clans sind alle tot.«
Der Gelehrte senkte den Blick. »Ich werde morgen Nachmittag für dich Magie wirken können«, versprach er.
»Gut.« Mutter sah Papa an und zog eine Braue hoch. »Du siehst besser aus«, sagte sie zu ihm. »Ich war nicht sicher, ob du auch nur die Treppe überleben würdest.«
Er grinste. »Schon gut, Kaiserin«, sagte er. »Ich hatte einen weiteren Anfall. Wenn Kissel nicht so schnell
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