Rabenzauber
gestorben war«, berichtete Hinnum. »Weglaufen funktioniert nicht, und das Gleiche gilt für die meiste Magie. Ich brauchte einige Zeit, um zu lernen, wie ich meine Lehrlinge schützen konnte, und es wird zu lange dauern, euch das beizubringen. Wir haben nur noch Minuten, bis die Türen nachgeben, und nicht Tage.«
»Das Memento sagte, sie würden ein Geschenk dafür verlangen, unser Leben zu schonen«, erinnerte sich Phoran. »Was immer uns das nützen mag.«
»Seraph.« Tiers entschlossen ruhige Stimme schnitt durch die wachsende Nervosität in der Bibliothek. »Ich habe meine Laute beim Gepäck im Lager gelassen. Gibt es eine Möglichkeit, dass Hennea oder du sie für mich holen können?«
Seraph starrte ihn an. Unter diesen Umständen schien das eine seltsame Bitte zu sein. Vielleicht hatte sie ihn falsch verstanden. »Wie bitte?«
Er legte den Arm um ihre Schultern und lächelte auf sie herab, und die Müdigkeit in seinen Augen ließ ein wenig nach. »Es gibt viele Lieder über die Toten, Seraph, und noch mehr Geschichten. Phoran sagt, das Memento habe ihm verraten, dass sie ein Geschenk wollen. Und ich habe bisher nur von einem einzigen Geschenk gehört, das die Toten akzeptieren: Musik.«
»Das habe ich auch gehört«, sagte Toarsen leise. »Meine Kinderfrau erzählte uns eine Geschichte von einem Barden, der versuchte, eine Nacht in einem Spukschloss zu überleben, indem er bis Tagesanbruch für die Gespenster sang.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Er hörte einen Augenblick zu früh auf, weil er vom Lied einer Nachtigall überrascht wurde.«
»Diese Geschichte kenne ich, aber ihr habt Glück, es gibt keine Vögel in Colossae, die mich ablenken könnten«, sagte Tier. »Also hol mir bitte meine Laute, Liebste.«
»Sie kommen«, sagte eine seltsame, tonlose Stimme.
Inmitten der Bibliothek stand ein Geschöpf der Finsternis. Es war zu groß und dünn für einen Menschen und in nachtfarbene Nebelschwaden gehüllt, die sich bewegten, als zupfte hier und da ein Wind an ihnen, den die anderen nicht spüren konnten. Es wirkte fehl am Platz, als gehöre es eher in eine der Ecken des Raums, wo sich die Schatten sammelten, als hier in der Mitte zu stehen.
Phoran trat vor, stellte sich zwischen das Wesen und die anderen, und Seraph begriff, dass sie Phorans Memento vor sich hatte. Es wirkte fester als in der Nacht zuvor, als wäre es näher daran, ein lebendes Wesen zu sein als ein totes.
In diesem Augenblick erklang ein hohles Dröhnen, das im Raum widerhallte und Jes knurren ließ.
»Seraph«, sagte Tier, »ich denke, es wäre wirklich gut, wenn ich diese Laute so schnell wie möglich haben könnte.«
Seraph öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Tier wusste, in welchem Zustand seine Weisung sich befand. Er wusste, dass die Anfälle häufiger auftraten, wenn er sang. Das brauchte sie ihm nicht noch einmal zu sagen.
Sie nickte und schloss die Augen.
Bevor sie den Edelstein gestohlen hatte, hatte Seraph so etwas noch nie getan, und sie war nicht sicher, wie sie Tiers Laute ohne eine Schnur aus Magie finden sollte, die ihr den Weg zeigte. Aber es war ein Tag des Lernens gewesen, und daher sagte sie ihrer Magie, was sie wollte.
Tiers Laute war beinahe ebenso sehr ein Teil von ihm wie seine braunen Augen und die Grübchen. Das Musikinstrument zu finden und zu sich zu rufen erwies sich als einfacher, als Seraph gedacht hätte, denn die Laute wollte bei Tier sein. Wahrscheinlich hätte er sie sogar selbst rufen können. Seraph öffnete die Augen und sah, dass das Instrument vor den Füßen ihres Mannes auf dem gebohnerten Boden lag.
Tier beugte sich vor, um es aufzuheben. Er verzog das Gesicht, dann richtete er sich langsamer wieder auf. An der Außentür erklang ein weiteres Krachen.
»Ich werde wirklich zu alt für so viele Abenteuer«, sagte Tier. »Danke für die Laute, meine Liebste.« Er sah sich um. »Wir sollten alle zusammenbleiben.«
Er setzte sich auf den Tisch und machte es sich bequem.
»Setzt euch«, wies er sie an. »Ich will, dass sie mich ansehen und nicht euch.« Er warf dem Memento einen Blick zu. »Und das schließt dich ein.«
Zu Seraphs Überraschung ließ sich das Memento auf den Boden nieder. Wenn Tier in diesem Tonfall sprach, gehorchten offenbar selbst solche Wesen. Seraph setzte sich auf eine Bank neben Tiers Tisch, während er die Laute stimmte.
Phoran hockte sich auf den Boden, und seine Gardisten verteilten sich um ihn herum. Jes und Hennea saßen am Rand der
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