Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenzauber

Rabenzauber

Titel: Rabenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
aber er sah nicht aus, als wolle er gleich wegrennen.
    Tier hatte mit seiner Musik zumindest die unmittelbare Krise aufgehalten. Seraph arbeitete an dem Zauber, der ihr gestattete, Geist zu sehen - und die Bibliothek begann zu leuchten wie ein Feld voller Freudenfeuer im Winter. Die Toten waren alle da, ein Ring aus Gestalten, die aus Geist und etwas anderem bestanden, das sie sehen, aber nicht benennen konnte, ein zwischen Rot und Gold wechselnder Dunst. Es gelang
ihr, den Blick lange genug von ihnen abzuwenden, um sich zu überzeugen, dass Tiers Weisung hielt, dann kehrte sie zu ihrer Wache zurück, weil sie hoffte, dass die Toten sich weiterhin fernhalten würden.
    Als Tier mit dem ersten Lied fertig war, sah er sein Publikum an - das, welches er sehen konnte. Dann begann er ein Marschlied, das Seraph noch nie zuvor gehört hatte. Es hatte einen eingängigen Kehrreim, und als er ihn zum zweiten Mal anstimmte, forderte der Barde seine Zuhörer auf: »Singt mit, wenn ihr möchtet.«
    Lehr und Jes fielen beide ein, und Rinnie fügte eine Sopran-Oberstimme hinzu. Seraph stellte fest, dass sie ebenfalls mitsummte. Aber mitten in der vierten Strophe sagte Tier ihren Namen statt des Wortes, das eigentlich in den Text gehörte, und sie erkannte, dass er sich gewaltig anstrengen musste.
    »Seraph«, sagte er noch einmal.
    Sie riss den Blick von den Toten los und sah, dass seine Weisung sich beinahe vollkommen von ihm gelöst hatte und nur noch von ein paar einzelnen Strähnen seines Geistes und den letzten Fäden ihrer Magie gehalten wurde. Sie packte die Verbindung, die zwischen Tier und dem Edelstein verlief, und zog fest auf Tier zu.
    »Besser«, sagte Tier, bevor er wieder mit dem Kehrreim begann.
    Sie hielt die Schnur fest. Vielleicht hätte sie Tier besser helfen können, wenn sie gewusst hätte, wie Geist und Weisung bei einem gesunden Weisungsträger in Beziehung zueinander standen. Bevor Tier sie angesprochen hatte, war sie so damit beschäftigt gewesen, die Toten zu beobachten, dass sie auf die anderen wenig geachtet hatte.
    Sie sah auf und wollte sich vergewissern, wie es Lehr ging - aber ihr Blick blieb zunächst an dem Memento hängen. Sie konnte die Gestalt des Wesens weiterhin sehen, aber für ihre
magische Sichtweise wirkte es eher dunkellila als schwarz. Unter dem Schutz der Weisung befand sich ein Reisender mit scharfen Zügen, der in einem hellen Geistblau leuchtete. Er sah sie an, schien verblüfft zu sein, dass sie ihn sehen konnte, und flüsterte dann in ihrem Kopf: »Er soll den Fall des Schattens erzählen, wie er es mir erzählt hat.«
    »Tier«, flüsterte sie, damit sie ihren Mann beim Singen nicht störte. »Das Memento sagt, du sollst den Fall des Schattens erzählen, wie du es ihm erzählt hast.«
    Tier wirkte ein wenig überrascht, aber er nickte. Als er weitersang, bemerkte sie, dass sein Geist sich stabilisiert hatte und nun wieder ein wenig besser mit den zerfaserten graugrünen Stücken seiner Weisung verbunden war. Seraph fragte sich, ob Tiers Musik, sobald der Bann des Schattens eingedämmt war, ihm half, einer weiteren Auswirkung des Bannes entgegenzutreten.
    Tier beendete das Lied, schlug einen Mollakkord an und begann eine aufsteigende Tonleiter, die sich zu einem bewegenden Arpeggio steigerte - verlorene und klagende Musik. Seine geschickten Finger flogen über die Bünde der Laute, und die Töne fügten sich schließlich zu einer weniger verstörenden Melodie, als er mit der Geschichte des Schattens begann.
    »Es war einmal …«
    Seraph hatte die Geschichte Dutzende von Malen gehört, also achtete sie wenig auf die Worte. Sie behielt die Toten im Auge, aber die schienen mit der von Lautenmusik begleiteten Geschichte zufrieden zu sein, denn sie blieben, wo sie waren. Die oberen Chöre von Tiers Laute webten Stücke von Heldenballaden und festlichen Liedern über einem leise pulsierenden Bass, der sich mehr und mehr dem Rhythmus eines Herzschlags annäherte, zu einer einzigen Melodie.
    »Dieser junge Mann war ein guter König, womit ich sagen will, dass er für Ordnung und Wohlstand unter seinen Adligen
sorgte und für gewöhnlich auch verhinderte, dass die anderen Bürger verhungerten.« Tiers Stimme verband sich mit seiner Musik.
    Als Seraph sicher war, dass Tiers Erzählkunst den Toten zusagte, betrachtete sie Lehr, um herauszufinden, wie eine Weisung normalerweise im Verhältnis zum Geist aussehen sollte.
    Zunächst überraschte der Geruch sie nicht, aber wenn sie aufmerksamer

Weitere Kostenlose Bücher