Rabenzauber
wird das Jes zerstören«, sagte Tier.
»Der Hüter hat recht«, stimmte der Pirschgänger zu. »Hennea ist ebenso sehr mein Kind wie das meines Bruders und wie Jes dein Kind ist. Ich würde ihr keinen weiteren Schmerz zufügen, wenn ich etwas dagegen tun könnte.«
»Lynwythe«, hörte sich Tier das Wort beenden und erkannte, dass während seines Gesprächs mit dem Gott keine Zeit verstrichen war.
Alle hielten inne und warteten darauf, dass etwas geschah. Tier ließ erst Rinnies Hand los und dann die von Hennea. Er zog die Laute, die wieder auf seinem Rücken hing, über die Schulter und begann, eine Melodie zu spielen.
Der Pirschgänger hatte ihm gesagt, es sei egal, für welches Lied er sich entschied, aber Tier wählte ein Soldatenlied, eins von diesen Stücken mit acht Zeilen Kehrreim auf zwei Zeilen Strophe, und die Anzahl der Strophen war nur eingeschränkt durch sein Gedächtnis für schlüpfrige Wortspiele. Er würde es singen können, bis die Sonne unterging.
Er senkte den Kopf, um eine Saite zu stimmen, und sagte sehr leise: »Jes, wenn ich mit der zweiten Strophe beginne, wird der Hüter imstande sein, Willon zu töten.«
»Es hat nicht funktioniert«, stellte Willon fest. »Der Pirschgänger hat Euch nicht geantwortet.«
»Glaubtet Ihr denn wirklich, er würde das tun?«, fragte Tier. Selbstverständlich kannte Willon den wirklichen Namen des Gottes. Er würde beider Götter Namen kennen müssen, wenn er ihre Macht stehlen wollte. »Wieso sollte er mir antworten?«
»Ich kann es tun«, bot Lehr an, der Tiers Worte ebenfalls gehört hatte.
Tier schüttelte den Kopf und fing an zu singen.
»Was macht Ihr denn da?«, fragte Willon, aber Tier sah, dass Seraph das Gleiche fragen wollte.
Er konnte auf keine dieser Fragen antworten, weil die Macht des Gottes in seinem Hals wie Feuer brannte. Er verstand, warum der Pirschgänger ihn mit Schmerzen geprüft hatte, denn dieses Lied tat weh. Die Macht des Pirschgängers war für ihn nicht leichter zu ertragen als für den Schatten -
und Tier würde nicht das Leben eines anderen Menschen nehmen, um es sich einfacher zu machen.
»Was macht Ihr da?«, fragte Willon noch einmal, und diesmal war er wütend. Offenbar ging er davon aus, dass Tier sich mit seinem Gesang über ihn lustig machte - ein albernes Lied über einen Soldaten, der in ein fremdes Dorf ging, um eine Frau zu finden, die mit ihm ins Bett gehen würde.
»Er ist ein Barde«, sagte Seraph plötzlich. »Musik ist sein Talent, Willon.«
Aus dem Augenwinkel sah Tier, wie Jes Hennea losließ und dann verschwand.
Willon hatte es ebenfalls bemerkt.
»Zweihundertzwölf Jahre«, sagte Willon, »und ich habe erst jetzt erfahren, dass es eine sechste Weisung gibt. Ich dachte, Volis meinte den Pirschgänger, wenn er vom Adler sprach. Wenn Ielian nicht gewesen wäre, hätte ich nie erfahren, dass mir einer fehlte. Wohin ist er gegangen?«
»Er ist immer noch hier«, sagte Seraph. »Könnt Ihr das Eis seines Atems nicht in Eurem Nacken spüren?«
Gesegnet soll sie sein, dachte Tier und zwang seine schmerzenden Finger, den angemessenen Druck auf den Hals der Laute auszuüben. Seraph wusste nicht, was er tat, aber sie wusste, dass etwas im Gange war. Je länger sie Willon ablenkte, umso besser.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Mund halten, Frau «, sagte Willon in einem giftigen Ton, der die aalglatte Kaufmannshaltung von ihm abriss und für die Sinne des Barden wahr und klar klang. Der Schatten machte eine Geste zu Seraph.
Nichts passierte. Tier war kein Magier, aber er konnte Magie mindestens so gut wahrnehmen wie alle anderen Rederni, und es kam ihm nicht so vor, als wäre von Willon etwas ausgegangen.
»Miststück!«, fauchte Willon, der offenbar Seraph die Schuld an seinem Versagen gab. Er holte tief Luft und setzte die Kaufmannsmaske wieder auf. »Aber ich bin nicht nur ein Avatar des Pirschgängers. Ich bin ein Zauberer, der die Rabenweisung hat.«
Er riss den Halsausschnitt seiner Tunika auf, und Tier sah, dass er einen Halsschmuck trug, der mit Edelsteinen besetzt war. Hennea gab ein leises Geräusch von sich, also konnte Tier nur annehmen, dass jeder Stein eine Weisung enthielt.
»Ich kann es nicht«, sagte der Hüter in Papas Ohr. »Ich kann Jes nicht dieser Gefahr aussetzen.« Jes spürte die kalte Angst des Hüters, bevor sie unter einer Lawine von beschützerischem Zorn begraben wurde. Ein Hüter verteidigte diejenigen, die er für die Seinen hielt - und Jes gehörte
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