Rache: Die Eingeschworenen 4
traurig. » Nachdem Hugin nämlich einen halben Tag geflogen war, wurde er müde und hungrig, und als er ein totes Schaf entdeckte, stürzte er sich gierig darauf. Er fraß die Augen und die Zunge und machte ein richtiges Festmahl daraus. Dann schlief er ein und vergaß völlig die Botschaft, die er den Menschen bringen sollte. Nach einiger Zeit«, fuhr Krähenbein nach einer Kunstpause fort und sah in die gespannten Gesichter, » als der Rabe nicht zurückkam, rief Odin das kleinste seiner Geschöpfe– die Ratte. Damals war sie noch nicht das Tier, das sich in der Dunkelheit und im Unrat herumtrieb, sondern ein Tier mit einem schönen Fell, auch wenn sie weiter nichts Nützliches tat, außer zu schlafen. Odin in seiner Gutmütigkeit wollte der Ratte eine Ehre erweisen, deshalb schickte er sie mit der gleichen Botschaft los.«
» Odin erinnert sehr an unsere heutigen Könige, die ich bisher kennengelernt habe«, murmelte Onund Hnufa, » und die Ratte verdammt an unsere heutigen königlichen Botschafter.«
Es gab etwas pflichtschuldiges Gelächter, das aber schnell wieder verebbte. Krähenbein fuhr fort.
» Wie du schon sagst, die Ratte war ein schlechter Botschafter. Sie schlief ein, rannte hierhin und dorthin– und wenn sie sich irgendwann auch wieder an ihren Auftrag erinnerte, so hatte sie doch den genauen Inhalt vergessen. Also erzählte sie den Menschen, Odin habe gesagt, wenn jemand stirbt, solle man ihn auf eine Bahre legen, umgeben von all seinen liebsten Besitztümern, und zu Asche verbrennen, worauf er einen halben Tag später wieder zum Leben erwachen würde.«
Krähenbein breitete die Hände aus.
» Nun ja, inzwischen war Hugin wieder aufgewacht und hatte sich an seine Botschaft erinnert, aber es war zu spät. Und deshalb«, sagte Krähenbein, » werden die Toten Odins bis zum heutigen Tag verbrannt. Der Gott war so wütend, dass er das Geheimnis der Auferstehung vom Tode zurücknahm und in die Welt hinausging und nach Weisheit suchte, um Fehler dieser Art nicht noch einmal zu machen. Deshalb traut heute niemand mehr einem sprechenden Raben, und die Ratte wird gehasst, weil sie eine falsche Botschaft überbrachte.«
Die Männer reckten sich, und Rovald schüttelte traurig den Kopf.
» Denk doch mal«, sagte er und stieß Styrbjörn an, der neben ihm saß, » wenn der Rabe sich nicht zum Fressen niedergelassen hätte, wären alle Menschen noch am Leben.«
» Dann musst du wohl dem toten Schaf die Schuld dafür geben, dass wir sterben werden«, sagte der giftig.
» Oder vielleicht den wohlschmeckenden Augen«, meinte Ospak.
Koll regte sich und stöhnte, offenbar war er aus einem Fiebertraum aufgewacht.
» Der Mond«, sagte er, und ein paar von uns sahen hoch, wo der Mond wie eine blasse Silbermünze zwischen den Wolken trieb.
» Der Wind wird Regen bringen«, murmelte Thorbrand.
» Das scheint für diese Gegend typisch zu sein«, brummte Ospak trocken und erntete etwas halbherziges Gelächter.
» Der Mond scheint auch dort, wo ich zu Hause bin«, flüsterte Koll.
Das galt für uns alle, und plötzlich mussten wir alle nach oben schauen. Styrbjörn schluckte schwer. Der Mund war ihm wohl trocken geworden bei den Gedanken an die Heimat– auch sein Zuhause lag irgendwo unter dieser Silbermünze am Himmel, und auch für ihn war es unerreichbar. Er würde hier sterben. Wir alle würden hier sterben.
» Erzähle mir von deinem Zuhause«, sagte der Mönch sanft, und Koll versuchte flüsternd zu sprechen, wobei es uns allen das Herz zusammenzog. Wie er barfuß am Strand gelaufen war. Wie er Möweneier gesucht hatte. Mit dem Hund spielte, fischen ging. Kinderspiele, die für diese hartgesottenen Männer in ebenso weiter Ferne lagen wie der Mond– und doch nahe genug waren, um sich daran zu erinnern und die Augen verschwimmen zu lassen. Einer der Männer stöhnte schmerzlich auf, als Koll flüsternd davon sprach, wie er mit Schlittschuhen aus Knochen über den zugefrorenen Fluss geglitten war. Die Stimme des Jungen wurde leiser, und wir waren froh, dass er wieder einschlief.
» Was kannst du über dein Zuhause erzählen, Mönch?«, sagte ich barsch. Ich wollte die Traurigkeit, die uns alle nach Kolls Erinnerungen gepackt hatte, abschütteln und dachte, dass Geschichten von Miklagard, das die Griechen-Römer Konstantinopel nannten, sicher unterhaltsamer wären und die Männer ablenken würden, denn die meisten von ihnen waren noch nie dort gewesen, und wenn, dann nur kurz.
» Die Mauern der Stadt
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