Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
Gottesdienstes gebärdete Lady Kira sich ebenso gebieterisch. Heute war sie so darauf erpicht gewesen, die uralte Abstammung der Ulphingstones anhand der Grabstätte zu illustrieren, dass sie ihre Gesellschaft direkt an ihm vorbeigeführt hatte, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, dabei hatte er in der Tür gestanden, um seiner Gemeinde zum Abschied eine gesegnete Weihnacht zu wünschen.
Tja, wer nicht will, der hat schon!, dachte er, als er sich abwandte, um zurück in die Kirche zu gehen. Er freute sich darauf, aus seinem Ornat und nach Hause zu seinem Truthahn zu kommen. Doch dann schwebte Sir Leons Stimme durch die klare Luft.
»Vikar Hollins, warten Sie bitte.«
Wenn er nicht schon mit einem Fuß über der Schwelle des Gotteshauses gewesen wäre, hätte er vielleicht »Scheiße!« gemurmelt, so jedoch unterdrückte er den Fluch und drehte sich mit einem Lächeln um.
»Ja, Sir Leon?«
»Ich glaube, Sie haben meine Tochter noch nicht kennengelernt«, rief der alte Mann.
Wär ja auch zu schön gewesen, dachte er, während er sich der Grabstätte näherte.
Die Frau, die er bereits von der Kanzel aus als Wolf Haddas Exfrau identifiziert hatte, wandte sich um, als ihr Vater sie leicht berührte. Sie und Wolf Hadda waren fast gleichaltrig, aber an ihr war die Zeit spurlos vorbeigegangen, während er von ihr gezeichnet worden war. Sie war von einer klaren Schönheit mit einem zarten hellen Teint, blauen Augen, goldblondem Haar – eine sehr englische Art von Schönheit, dachte er, die von Sir Leons Seite der Familie kommen musste, da sie ganz anders aussah als ihre attraktive Mutter mit den hohen Wangenknochen und dunklen Augen.
»Imogen, das ist, äh, Mark …«
»Luke.«
»Ach ja, richtig, ich wusste doch, dass es was Einsilbiges war. Luke Collins ist seit sechs Monaten bei uns. Hat sich gut eingelebt. Eigentlich.«
»Hollins«, sagte der Vikar. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Sie nahm die dargebotene Hand und drückte sie fest. Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugier und Mitgefühl. Das Mitgefühl erwuchs aus dem Wissen, welche Schläge ihr das Schicksal verpasst hatte. Eine junge Frau, die alles hat – ein schönes Zuhause, Reichtum, Luxus, eine hübsche, gesunde Tochter – muss erfahren, dass ihr vermeintlich treu sorgender und ungeheuer erfolgreicher Ehemann in Wahrheit ein Perverser und Betrüger ist. Er wandert ins Gefängnis, sie heiratet erneut, versucht, sich ein neues Leben aufzubauen, und dann stirbt ihre Tochter unter tragischen, elenden Umständen.
Und was die Neugier anging, nun ja, ein Maßstab dafür, wie gut er sich in seine neue Arbeit eingelebt hatte – eigentlich! –, war die Tatsache, dass seine Gemeindemitglieder ihm immer unbefangener begegneten. Sie unterbrachen ihre Gespräche nicht mehr, wenn er dazukam. Er mochte ja ein komischer Kauz sein, aber er war ihr komischer Kauz. Wenn sie jetzt alte Vasallentreue beschworen und ihre Reihen schlossen, um die Ulphingstones vor aufdringlichen Auswärtigen zu schützen, wurde er in ihre geschlossenen Reihen einbezogen. Und er hatte rasch gemerkt, dass Vasallentreue mit dem alten Vasallenrecht einherging, die oben im Schloss genau zu beobachten und noch genauer zu erörtern.
Im Dorf wurde erzählt, die kleine Imogen hätte ihren eigenen Kopf. Schon als junges Ding hatte sie Fred Haddas Jungen, Wilf, um den kleinen Finger gewickelt. Und dann hatte sie ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, als ihr Dad dahintergekommen war, aber als er fünf Jahre später mit einem Sack Geld und feinen Manieren wieder auftauchte, da war sie auf einmal ganz interessiert gewesen.
Dann kriegt er Ärger, und sie lässt sich von ihm scheiden, noch während er vor Gericht steht, und heiratet diesen Anwalt! Und als die Tochter, die sie zu den Franzmännern abgeschoben hat, unter die Räder kommt und schließlich stirbt, bringt sie ihren Leichnam zurück und bestattet ihn auf dem Friedhof von St Swithin’s, und dann kommt sie bloß einmal im Jahr her, um ihr Respekt zu zollen!
Anders ausgedrückt, Hadda selbst genoss zwar so gut wie keine Sympathien, aber seine ehemalige Frau noch deutlich weniger, als man hätte erwarten können.
Sie hielt seine Hand weiter fest, nachdem er sie geschüttelt hatte.
Sie sagte mit lauter klarer Stimme und der für die herrschende Klasse typischen Gleichgültigkeit gegenüber eventuellen Zuhörern, ganz egal wie privat das Thema ist: »Mr Hollins, wie ich höre, sind Sie hier derjenige, der den
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