Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
wieder in prustendes Gelächter ausgebrochen, und ihre Mutter hatte sie wie so oft mit liebevoller Verwunderung angeschaut.
Jetzt jedoch, allein, beschwor sie vor ihrem geistigen Auge ein Bild vom Gefängnis Parkleigh herauf, das sich bedrohlich und wuchtig vor dem östlichen Himmel abzeichnete, und bei dem Gedanken, am nächsten Morgen dorthin zu fahren, überlief es sie kalt.
2
Das Gefängnis Parkleigh war in den 1850er-Jahren auf einer sumpfigen Wiese in Essex vor den Toren Londons erbaut worden. Als habe der Architekt eine Kathedrale des Strafvollzugs errichten wollen, plante er einen einzelnen wuchtigen Turm mit ein, der in dieser flachen Landschaft meilenweit zu sehen war, eine Beruhigung für die Tugendhaften und eine Warnung für die Sünder.
Parkleigh wurde rasch von der stetig wachsenden Hauptstadt eingeholt, blieb aber bis in die 1980er-Jahre so ziemlich unverändert. Dann mussten selbst die Thatcher-Hardliner einsehen, dass das Gefängnis seinem Zweck nicht mehr genügte. Nach seiner Schließung stand es etwa ein Jahrzehnt oder länger als bedrohliches Monument viktorianischer Werte ungenutzt herum. Alle Welt rechnete damit, dass das Gebäude irgendwann abgerissen und das Grundstück zu Bauland erklärt werden würde, doch dann wurde trotz beachtlichem, aber vergeblichem Protest der Anwohner bekannt gegeben, dass Parkleigh saniert und im Zuge der Initiative alternativer Projektfinanzierung in ein privat betriebenes Hochsicherheitsgefängnis der Kategorie A umgewandelt werden sollte.
Es wurde allen Ansprüchen gerecht, wie die Betreiber schwärmten. Von außen dunkel und abschreckend genug, um die Verfechter von Folterknechten und Henkern zu erfreuen, drinnen auf dem allerneusten Stand, wie es der rehabilitative Strafvollzug von seinen Einrichtungen verlangte.
Die Insassen waren Häftlinge der Kategorie A, also diejenigen, die die Gesellschaft unbedingt weggesperrt sehen wollte, bis sie ihre meist recht langen Haftstrafen abgesessen hatten. 2010 wurde Hadda unter dem Beifall der Öffentlichkeit nach Parkleigh verlegt. Fünf Jahre später folgte Alva Ozigbo – ohne Beifall.
Vor allem zwei Argumente sprachen gegen sie.
Als Psychiaterin war sie zu jung.
Und als Frau war sie eine Frau.
Äußerlich behandelte Alva derlei Einwände mit der Verachtung, die sie verdienten.
Innerlich gab sie zu, dass beide nicht völlig unbegründet waren.
Mit achtundzwanzig war ihr Stern zweifellos im Aufstieg begriffen, und dieser Aufstieg hatte begonnen, als sie ihre Doktorarbeit über Ursachen und Behandlungsformen von deviantem Verhalten in ein Buch mit dem griffigen Titel Seelen heilen umarbeitete. Es wurde wohlwollend aufgenommen, wenngleich in den Rezensionen häufig das Wort frühreif auftauchte. Aber ihre Anstellung in Parkleigh hatte sie einer Zufallsbegegnung zu verdanken.
Giles Nevinson, ein Anwalt und guter Freund von ihr, der die Hoffnung hegte, durch Hartnäckigkeit mehr für sie zu werden, hatte sie zu einem förmlichen Dinner seiner Anwaltskammer eingeladen. Sie hatte zwar keineswegs die Absicht, aus dieser Freundschaft je mehr werden zu lassen, aber sie mochte Giles. Außerdem war er aufgrund seiner Arbeit für die Staatsanwaltschaft eine nützliche Quelle für kostenlose Rechtsberatung und Informationen. Also nahm sie die Einladung an.
Giles widmete einen Großteil des Abends der ziemlich hochherrschaftlich wirkenden Dame zu seiner Linken, mit der er sich angeregt über Perserkatzenzucht unterhielt. Wie er später erklärte, hatte ihn weniger seine Katzenliebe als vielmehr purer Ehrgeiz dazu veranlasst, seine Begleiterin zu vernachlässigen. Die andere Frau mit dem durchaus angemessenen Namen Isa Toplady war die Gattin eines Richters am Obersten Gericht, dem nachgesagt wurde, sich durch die persönlichen Ansichten seiner besseren Hälfte stark beeinflussen zu lassen.
Alva musste sich notgedrungen nach rechts wenden, um ein wenig angeregt zu plaudern, und sah sich einem zart gebauten Mann um die sechzig gegenüber, der dünnes Haar hatte, blassblaue Augen und jenen Gesichtsausdruck unbestimmter Güte, mit dem so mancher Maler versucht hat, den Gleichmut der Heiligen anzudeuten, während sie von Geißeln gepeitscht, von Pfeilen durchbohrt oder von Flammen geröstet werden.
Er stellte sich als John Childs vor, und als er ihren Namen hörte, sagte er: »Ach ja. Seelen heilen . Eine anregende Lektüre.«
Da sie argwöhnte, er habe sich aus unerfindlichen Gründen im Vorfeld des Dinners einfach nur
Weitere Kostenlose Bücher