Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
betrachtet.«
Der Kontrast zu Childs hätte größer nicht sein können. Homewood hatte nichts Scheues oder Zurückhaltendes an sich. Er war Ende dreißig, hatte ein kantiges, resolutes Gesicht, das von einem kräftigen braunen Haarschopf gekrönt wurde, und fixierte sie mit einem starren und ausgesprochen prüfenden Blick, während er mit ihr sprach. Er fragte sie nach ihrem Buch, drängte sie, ihre Gedanken zu erläutern, umriss einige Probleme, die sich bei der Behandlung von Langzeithäftlingen ergaben, und wollte ihre Meinung dazu hören.
Ist das hier ein Vorstellungsgespräch?, fragte sie sich. Wohl kaum, denn wenn dem so wäre, könnte es nur um einen einzigen Posten gehen. Zehn Tage zuvor war nämlich Joe Ruskin, der leitende Psychiater von Parkleigh, bei einem Auffahrunfall auf der M5 ums Leben gekommen. Sie hatte den Mann nur flüchtig gekannt, somit war ihre Reaktion auf die Nachricht entsprechend schwach gewesen und schon bald von dem Gedanken verdrängt worden, dass sie sich, wenn der tragische Unfall vier oder fünf Jahre später passiert wäre, bestimmt um die frei gewordene Stelle beworben hätte. In Parkleigh saßen einige der faszinierendsten Verbrecher ihrer Zeit. Für jemanden mit ihrem Spezialgebiet war das ein Traumjob.
Aber mit achtundzwanzig war sie viel zu jung und unerfahren, um als Kandidatin in Frage zu kommen. Und außerdem wollten sie wahrscheinlich einen Mann. Dennoch genoss sie das Gespräch, an dem Childs sich kaum beteiligte, sondern einfach nur dabeisaß und zusah, mit einem leicht besitzergreifenden Lächeln auf den Lippen.
Nach dem Essen entschuldigte sie sich und ging zur Toilette. Mit etwas Abstand zu den beiden Männern schien ihr auf einmal völlig offensichtlich, wie lächerlich es von ihr war, diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen.
»Idiotin«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild über dem Waschbecken.
Als sie zum Tisch zurückging, sah sie die beiden Männer in ein Gespräch vertieft, das sie jedoch gleich beendeten, als sie sie sahen. Dann fixierte Homewood sie wieder mit diesem Blick, der vermutlich jedem, mit dem er sprach, signalisierte: Sie sind die faszinierendste Person im Raum , und sagte so beiläufig, als würde er sich nach ihren Urlaubsplänen erkundigen: »Dr. Ozigbo, hätten Sie vielleicht Lust, in Parkleigh zu arbeiten?«
3
Gestärkt mit einem großen Scotch mit Wasser sowie einer Schale Bacon-Chips, fühlte sich Alva endlich in der Lage, Haddas Schulheft aufzuschlagen.
Sie ging den Text dreimal durch, das erste Mal schnell, um sich einzulesen; das zweite Mal langsam, um sich Notizen zu machen; das dritte Mal mit Unterbrechungen, um sich reichlich Zeit zum Nachdenken und Analysieren zu nehmen.
Nach dem dritten Durchgang war sie noch genauso enttäuscht wie nach dem ersten.
Die Erzählung hatte Stil. Sie zeichnete sich durch große Detailgenauigkeit aus und zeugte von einem beeindruckend sicheren Erinnerungsvermögen. Sie wirkte glaubhaft.
Was zusammengenommen nur eines bedeuten konnte: Wilfred Hadda war noch immer nicht bereit, den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Es würde nicht einfach werden, aber das hatte sie ja wohl auch nicht erwartet, oder?
Sie wusste sowohl aus eigener beruflicher Erfahrung als auch aus zahlreichen Studien, wie schwierig es bei manchen Männern war, sie an einen Punkt zu bringen, an dem sie sich ihren eigenen Verbrechen stellten. Wenn es um Kindesmissbrauch ging, war der Weg verständlicherweise besonders lang und gewunden. An seinem Ende wartete ein so starker Moment des Selbstekels, dass das Unterbewusstsein zu dem Schluss kam, die Heilung sei schlimmer als die Krankheit, und demzufolge akrobatische Verrenkungen vollführte, um diesen Moment zu vermeiden.
Genau deshalb wirkte der Text so glaubhaft. Hadda versuchte nicht, sie zu täuschen. Er hatte Jahre Zeit gehabt, um sich selbst einzureden, dass er die Wahrheit sagte. Hinzu kam natürlich, dass er, zumindest was die beschriebenen Ereignisse betraf, an keiner Stelle von den bekannten Fakten abwich, wie sie aus ihrer genauen Durchsicht der Prozessakten und des Pressematerials wusste. Nur die implizierte Motivation hatte sich verändert. Er war ein reicher, mächtiger Mann, der es gewohnt war, sich durchzusetzen, und wenngleich er zweifellos einen scharfen Verstand besaß, waren seine körperlichen Reaktionen manchmal so vorrangig und unmittelbar, dass die Vernunft auf der Strecke blieb. Nicht empörte Unschuld hatte seine Attacke auf Medler ausgelöst, sondern die
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