Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
»Alles in Ordnung, Miss?«
»Ja, vielen Dank«, sagte sie. »Ich hab mich nur verschluckt«, und sie kaschierte ihr Zittern mit einem Hustenanfall.
Er sagte: »Möchten Sie ein Glas Wasser, Miss?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, danke. Es geht schon wieder.«
Als die Tür sich wieder geschlossen hatte, sagte Hadda: »Entschuldigen Sie meinen kleinen Auftritt. Sie können jetzt bestimmt einen starken Brandy gebrauchen. Ich schlage vor, wir brechen die Sitzung ab und Sie genehmigen sich einen.«
Sie hatte noch immer mit den Nachwirkungen des Schocks zu kämpfen und musste sich erst auf den neuen Tonfall einstellen, in dem er jetzt mit ihr sprach.
Irgendwie schaffte sie es, ihre eigene Stimme ruhig zu halten, als sie antwortete: »Nein, wenn Sie sich so trickreich vergewissern wollten, dass uns auch wirklich keiner zuhört, heißt das ja wohl, dass Sie mir gern etwas sagen möchten.«
»Nicht jetzt«, sagte er. »Ich habe etwas für Sie zu lesen. Okay, ich bin überzeugt, dass Sie die Wahrheit sagen und uns wirklich niemand zuhört. Jetzt brauche ich Ihre Zusicherung, dass niemand sonst das hier oder alles andere, was ich Ihnen gebe, lesen wird.«
Während er sprach, zog er ein Schulheft aus seiner Gefängnisjacke.
Dieser Schock war anders als der, den die Gefahr eines Messerangriffs ausgelöst hatte, aber in gewisser Weise war er fast ebenso heftig.
Sie sagte vielen ihrer Patienten, dass es nur positiv sein könnte, wenn sie das Bedürfnis hätten, ihre Gefühle oder Gedanken zu Papier zu bringen, ehe sie sich das nächste Mal trafen. Außer ihr würde niemand sehen, was sie aufschrieben, sicherte sie ihnen zu, und diese Zusicherung hatte zur Folge, dass manche ihre sexuellen Fantasien in drastischen Einzelheiten vor Alva ausbreiteten.
Hadda hatte sie einfach ignoriert, als sie das erste Mal vorschlug, er könnte vielleicht etwas aufschreiben. Mehrere Wochen lang hatte sie den Vorschlag wiederholt, bis sie schließlich aufgab.
Daher kam das hier völlig unerwartet. Es hätte sich wie ein Durchbruch anfühlen müssen, aber ihr fehlte die Energie, innerlich zu frohlocken.
Sie sah ein, dass Hadda recht hatte. Das Einzige, was sie jetzt wollte, war, sich irgendwo in aller Ruhe einen starken Drink zu genehmigen.
Sie sagte: »Ich verspreche es Ihnen. Niemand wird irgendwas von Ihnen lesen, es sei denn, Sie geben mir Ihre ausdrückliche Erlaubnis. Genügt das?«
»Das muss es wohl«, sagte er und reichte ihr das Heft.
Sie nahm es und hielt es in der Hand, ohne es aufzuschlagen.
»Und das ist …?«, fragte sie.
»Sie sagen doch andauernd, Sie möchten verstehen, wie ich hier gelandet bin. Tja, das ist die Geschichte. Zumindest der erste Teil.«
Sie stand auf, blickte kurz zu der Kamera hoch und sagte, als die Tür aufging: »Ich freu mich darauf, es zu lesen.«
Dann fuhr sie schnurstracks nach Hause, gönnte sich den ersehnten starken Drink und musste sich daraufhin zu ihrer eigenen Überraschung heftig übergeben.
Als das überstanden war, nahm sie eine sehr heiße Dusche. Abgetrocknet und in einen dicken weißen Bademantel gehüllt, setzte sie sich an ihren Frisiertisch und starrte sich im Spiegel an.
Hinter sich, durch die offene Tür zum Wohnzimmer, konnte sie das Schulheft auf dem Tisch liegen sehen, auf den sie es geworfen hatte, als sie die Wohnung betrat.
Wenn sie es aufschlug, würde sie sich auf eine Reise begeben, die sie zu einigen sehr dunklen Orten führen konnte. Nicht dunkler, so vermutete sie, als viele andere, die sie bereits besucht hatte. Aber irgendwie erschien es ihr besonders unangenehm, diese Reise in Begleitung von Wilfred Hadda zu machen.
Warum war das so?, fragte sie sich.
Es lag nicht an den Abgründen, auf die sie möglicherweise stoßen würde. Die waren nun mal Teil ihres Berufes. Also musste es etwas mit dem Mann zu tun haben, dessen Abgründe sich ihr offenbaren würden.
Daran wurde seine Stärke deutlich. Deshalb musste sie ständig auf der Hut sein, nicht vor der körperlichen Bedrohung, die er eingesetzt hatte, um ihre Behauptung zu testen, dass ihre Gespräche vertraulich waren, sondern vor einem sehr viel indirekteren psychischen und emotionalen Angriff.
Sie musste daran denken, was ihr Vater gesagt hatte, als sie ihm von dem Jobangebot erzählt hatte.
»Elfe«, hatte er mit tiefer Stimme gesagt, »bist du sicher, dass du dich da nicht übernimmst?«
»Vertrau mir«, hatte sie erwidert. »Ich bin Psychiaterin.«
Und dann waren sie beide mal
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