Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
an.
Du schließt das Auge für eine Sekunde. Oder eine Minute. Oder länger.
Als du es wieder aufschlägst, ist er weg.
Aber in dem Raum, den er eingenommen hat, in Wirklichkeit oder in deiner Vorstellung, bleibt ein Nachbild zurück.
Obwohl du noch immer nicht in der Lage bist, Erinnerung und Albtraum zu unterscheiden, hattest du stets so ein vages Gefühl, dass die Umstände, die zu deinem Unfall führten, irgendwie unerfreulich waren. Doch selbst wenn das real ist, kommt es dir nicht so vor, als müsstest du dir deswegen Gedanken machen. Es ist, als wäre eine Frist abgelaufen. Okay, es tut dir leid, dass du sie nicht einhalten konntest, doch da sie nun mal abgelaufen ist, empfindest du zunächst nur eine enorme Erleichterung, dass du dir deswegen nicht mehr den Kopf zerbrechen musst!
Aber das Auftauchen von Medler hat diese naive Illusion zerstört.
Medler!
Da, du erinnerst dich an den Namen, ohne dich groß anzustrengen, oder vielleicht gerade deshalb.
Und mit dem Namen kommen andere deutliche Erinnerungen.
Medler, mit seinem verschlagenen anzüglichen Blick.
Medler, dem du eins in die verlogene Fresse gegeben hast. Zweimal.
Medler, der dein Haus durchsuchen ließ, deine Frau und dein Kind dazu trieb, unterzutauchen, dich beschuldigte, ein Pädophiler zu sein.
Das zumindest muss sich mittlerweile erledigt haben, denkst du. Selbst die langsamen knirschenden Mühlen der Polizei müssen nach all den Monaten die Wahrheit aus dieser absurden Unterstellung herausgemahlen haben.
Schwester Jane kommt herein. Du fragst sie, wie lange es her ist, dass du aus dem Koma erwacht bist.
Sie sagt: »Fast zwei Wochen.«
Sie versteht augenblicklich, warum du das fragst, und lächelt mitleidig. Sie ist, wie du inzwischen gemerkt hast, eine wirklich nette Frau. Und sie ist nicht die einzige. Zugegeben, ein paar von den Schwestern behandeln dich wie den letzten Dreck, aber die meisten sind äußerst professionell, ja sogar mitfühlend.
Jetzt versucht Schwester Jane, deine Enttäuschung mit einer Erklärung zu lindern.
»Es ist nicht üblich, die Öffentlichkeit zu informieren, ehe sie den Zeitpunkt für gekommen halten.«
Was heißt, ehe sie sicher sind, dass deine Wiederauferstehung nicht bloß eine Stippvisite war, bevor du erneut abtauchst, vielleicht für immer. Aber deine Lieben, Imogen und Ginny, sind doch wohl über jede Veränderung deines Zustands informiert worden? Wieso waren sie noch nicht hier an deinem Bett?
Du trinkst einen Schluck Wasser, benutzt dabei die linke Hand. Die beiden noch verbliebenen Finger der rechten sind ganz nützlich, wenn dir im Gespräch mit Dr. Jekyll die Worte fehlen, aber du bist noch längst nicht so weit, ein Glas in ihre liebevolle Obhut zu geben.
Deine Stimmbänder scheinen ihre alte Geschmeidigkeit zurückzugewinnen, wenngleich deine Stimme jetzt ständig irgendwie heiser klingt.
Du sagst: »Irgendwelche Anrufe für mich? Oder Nachrichten?«
Schwester Jane sagt: »Ich denke, Sie sollten mit Mr McLucky sprechen. Ich sag ihm Bescheid.«
Sie verlässt das Zimmer. Mr McLucky arbeitet wahrscheinlich in der Krankenhausverwaltung, und du machst dich auf eine lange Wartezeit gefasst, während er aus seinem schmucken Büro geholt wird. Aber nach nur wenigen Sekunden geht die Tür auf, und ein großer schlanker Mann in engen Jeans und einem grauen Sweatshirt kommt herein. Er ist um die dreißig, mit einem Mund voll nikotingelber Zähne in einem länglichen schwermütigen Gesicht, und entspricht so gar nicht deiner Vorstellung von einem Krankenhausbürokraten.
Du sagst: »Mr McLucky?«
Er sagt: »Detective Constable McLucky.«
Du starrst ihn an. Du hast das Gefühl, ihn schon mal gesehen zu haben, nicht wie Medler, sondern kürzer … im Gedränge eines überfüllten Raums vielleicht? Später wirst du darauf kommen, dass er der deplatzierte Mann an der Theke im Black Widow war, durch den du gemerkt hast, dass die Polizei dich schon erwartete.
Du sagst: »Was zum Teufel machen Sie hier?«
Er sagt: »Meinen Job.«
Du sagst: »Und was genau ist Ihr Job, Detective Constable McLucky?«
Er sagt: »Dafür sorgen, dass Sie nicht noch einmal abhauen, Sir Wilfred.«
Du würdest lachen, wenn du wüsstest, welche Muskeln dafür gebraucht werden.
Du sagst: »Sie meinen, Sie sitzen draußen vor meiner Tür und bewachen mich? Wie lange sind Sie schon da?«
»Seit Sie beschlossen haben aufzuwachen«, sagt er. »Die Schwester hat gesagt, Sie wollten mich sprechen.«
Er hat einen
Weitere Kostenlose Bücher