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Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Titel: Rache verjährt nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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hatte, der Abdruck von einem Gemälde, den er offenbar aus einer Zeitschrift herausgerissen und an die Wand geklebt hatte. Es war die Darstellung einer hochgewachsenen aufrechten Gestalt, die die rechte Hand auf eine Holzfälleraxt gelegt hatte und unter einem stürmischen Himmel über eine weite Landschaft aus Bergen und Seen blickte. Alva betrachtete das Bild eine Weile.
    »Sie mögen Bilder, was Miss?«, erkundigte sich Chief Officer Proctor, der sie in die Zelle begleitet hatte.
    »Ich mag, was sie mir über die Menschen verraten, die sie mögen«, sagte Alva. »Und natürlich über die Menschen, die sie gemalt haben.«
    Falls das Gemälde eine Signatur hatte, so war sie auf der minderwertigen Reproduktion nicht zu erkennen. Alva machte sich eine Notiz, dem nachzugehen, und nahm dann den Rest der Zelle in Augenschein. Nur ihre Leere sagte etwas über die Persönlichkeit ihres Bewohners aus. Es war, als hätte Hadda beschlossen, keine Spur seines Daseins zu hinterlassen. Sie entdeckte allerdings ein einziges Buch, eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Der Graf von Monte Christo . Als Proctor sah, dass sie das Buch musterte, sagte er sarkastisch: »Keine Sorge, Miss. Wir suchen regelmäßig alles nach Tunneln ab.«
    Später bat sie die Gefängnisbibliothek um eine Liste der Bücher, die Hadda ausgeliehen hatte, und erfuhr, dass es keine gab. Jahrelange Haft ohne Ablenkung, allein mit seinen Gedanken. Entweder der Mann hatte enorme innere Ressourcen oder er hatte überhaupt kein Innenleben.
    Giles Nevinson, der auf Alvas Wunsch hin die Prozessakten gesichtet hatte, war auf eine Liste mit den bei der ersten Durchsuchung von Haddas Haus beschlagnahmten Gegenständen gestoßen. Alva interessierte sich für die Bücher und DVDs. Es war nichts dabei, was die Staatsanwaltschaft für ihre Anklage hatte verwenden können, aber die Titel deuteten darauf hin, dass Hadda vor dem Unfall Geschichten bevorzugt hatte, in denen ein knallharter abgebrühter Protagonist das Recht selbst in die Hand nahm und erfolgreich gegen teuflische Pläne und wütende Angriffe mächtiger Feinde ankämpfte.
    Das wäre eine Erklärung dafür, warum er die Polizeirazzia und ihre Folgen in Form der Anfangskapitel eines Thrillers dargestellt hatte, in dem er selbst den schwer geprüften Helden gab.
    Doch Alvas Einschätzung nach verschleierte die Form ihre eigentliche Funktion.
    Für Hadda war es keine Fiktion, es war eine Offenbarung, es war Heilige Schrift! Falls sich ihm je irgendwelche Zweifel an der Richtigkeit seiner Sache ins Bewusstsein schlichen, musste er nur auf seinen Urtext zurückgreifen, und alles wurde wieder einfach und überschaubar.
    Aber das hatte er nicht durchhalten können, als er über sein Auftauchen aus dem Koma schrieb. An dieser Stelle war ihm die genaue narrative Kontrolle entglitten. Selbst nach so vielen Jahren war ihm noch das Gefühl gegenwärtig, in eine neue und fremde Landschaft hinein zu erwachen. Seine Schilderung war unmittelbar, nicht historisch. Normalerweise können wir im Rückblick Ordnung in Erlebtes bringen, aber hier war noch immer zu spüren, wie er versuchte, verschwommene Bilder zu deuten, sich auf gebrochene Linien, unscharfe Konturen einen Reim zu machen.
    Es gab eine gewisse Struktur. Beide Teile kulminierten in einem brutalen Moment des Schocks. Zuerst entdeckte er seine körperliche Veränderung, dann die Untreue seiner Frau. Weder in der Darstellung seiner Verwirrung unmittelbar nach dem Erwachen noch in der Folge dieses Schocks fand sich auch nur der leiseste Hinweis darauf, dass er sich auf dem Weg von der Verdrängung in Richtung Einsicht befand.
    Aber das war erst der Anfang. Sie war ziemlich sicher, dass sie inzwischen so gut wie jede verfügbare Information über Wolf Hadda besaß, aber was konnte sie damit anfangen? Sehr wenig. Die maßgebliche Darstellung der mentalen und emotionalen Reise, die ihn nach Parkleigh gebracht hatte, konnte nur von innen kommen.
    Wenn sie ihn dazu brachte, diese Darstellung selbst zu liefern, so konnte sie ihn vielleicht zu einem Moment der Selbsterkenntnis führen, in dem er dann wie ein Bergwanderer, der plötzlich ein Brockengespenst vor sich sieht, entsetzt vor der monströsen Erscheinung zurückschrecken und sie schließlich als Projektion seiner selbst erkennen würde. Das war ihre einzige Hoffnung.
    Ihr gefiel dieses Bild, und in Haddas Fall war es besonders treffend. Sie hatte sich mit seiner Herkunft beschäftigt und wusste, dass er im Lake District

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