Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
bloß der erste Teil. Vielleicht warten wir lieber, bis ich das ganze Werk habe, ehe ich weitere Kommentare abgebe. Was halten Sie davon, Wilfred? Darf ich Sie Wilfred nennen? Oder wäre Ihnen Wilf lieber? Oder Wolf? Das war doch Ihr Spitzname, nicht wahr?«
Bislang hatte sie sich immer an das korrekte Mr Hadda gehalten. Es hätte peinlich gewirkt, irgendeine andere Form der Anrede zu verwenden, solange sie keine oder kaum eine Reaktion von ihm bekam. Aber sie musste etwas tun, um diesen kleinen Fortschritt in ihrer Beziehung deutlich zu machen.
Er sagte: »Wolf. Ja, früher hat man mich Wolf genannt. Ich erinnere mich, das war für die Presse ein gefundenes Fressen. Ich bin nach meinem Dad benannt worden. Wilfred. Er wurde Fred gerufen. Und ich Wilf, bis … Aber das ist lange her. Nennen Sie mich, wie Sie wollen. Und was ist mit Ihnen? Ich hab keine Lust mehr, Doctor zu sagen. Das klingt so klinisch, finden Sie nicht? Und Sie wollen sich doch mit mir anfreunden. Also, mal sehen … Sie heißen Alva, nicht wahr? Ungewöhnlicher Name.«
»Er ist schwedisch. Meine Mutter ist Schwedin. Er bedeutet Elfe oder so was Ähnliches.«
Wieder das echte, unwölfische Lächeln. Das machte dreimal. Es war gut, dass er es so sparsam austeilte. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.
»Wolf und Elfe, der Unterschied ist gar nicht so groß«, sagte er. »Sie nennen mich Wolf, ich nenne Sie Elfe, okay?«
Elfe. Das war der Kosename, den ihr Vater ihr schon verpasst hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Niemand sonst hatte sie je so genannt. Sie wünschte, sie hätte die Bedeutung nicht verraten, meinte aber, ihr diesbezügliches Unbehagen gut kaschiert zu haben, bis Hadda sagte: »Haben Sie wirklich nichts dagegen? Ich kann Sie auch Madam nennen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nein, Elfe ist gut«, sagte sie.
»Prima. Und Elfen können zaubern, hab ich recht?«
Er griff in seine Jacke und zog ein weiteres Schulheft heraus.
»Dann zeigen Sie mal, was Sie können, Elfe«, sagte er und reichte es ihr. »Das ist Teil zwei.«
Wolf
1
Du schlägst das Auge auf.
Das Licht ist so grell, dass du es sofort wieder schließt.
Dann versuchst du es noch einmal, diesmal ganz vorsichtig. Der Vorgang dauert ein paar Minuten, und selbst dann öffnest du es nicht ganz, sondern blinzelst durch die Wimpern in die Helligkeit.
Du bist im Bett. An deinem Körper sind Drähte und Schläuche befestigt, also muss es ein Krankenhausbett sein. Es sei denn, du bist von Außerirdischen entführt worden.
Du schließt das Auge erneut und überlegst, ob das ein Witz sein soll oder tatsächlich möglich ist.
Das müsstest du doch wohl wissen, oder?
Du denkst, dass du das hier irgendwie erlebst und dich gleichzeitig dabei beobachtest, wie du es erlebst.
Weder das eine noch das andere ist bislang beunruhigend.
Du schlägst wieder das Auge auf.
Allmählich gewöhnst du dich an die Helligkeit. Ja, der Teil von dir, der beobachtet, bemerkt, dass es sich lediglich um ein bisschen Tageslicht handelt, das durch die Lamellen der Jalousie an dem einzigen Fenster dringt.
Das einzige Geräusch, das du hörst, ist ein regelmäßiger Piepton.
Das finden deine beiden Entitäten beruhigend, weil es, wie sie aus Krankenhausserien wissen, bedeutet, dass du lebst.
Dann hörst du ein anderes Geräusch, eine Tür geht auf.
Du schließt das Auge und wartest.
Jemand tritt ins Zimmer und kommt ans Bett. Alles wird wieder still. Die Spannung ist zu groß. Du musst nachsehen.
Eine Krankenschwester steht neben dem Bett, sie hält ein Klemmbrett in der Hand und schreibt etwas auf. Ihr Blick wandert zu deinem Gesicht und registriert dein geöffnetes Auge. Ihre runden sich vor Erstaunen.
Erst jetzt kommt dir in den Sinn, dass Augen normalerweise paarweise vorkommen.
Du sagst: »Wo ist mein anderes Auge?«
Zumindest hast du das vor. Was herauskommt, klingt für den Beobachter und vermutlich auch für die Krankenschwester wie die verrosteten Angeln einer lang verschlossenen Tür.
Sie tritt zurück, fischt ein Handy aus ihrer Tasche, drückt einen Knopf und sagt: »Sagen Sie Dr. Jekyll, er ist aufgewacht.«
Dr. Jekyll? Das hört sich nicht gerade vielversprechend an.
Du schließt das Auge wieder. Solange du nichts Genaueres über das zweite weißt, ist es wohl besser, es nicht zu überanstrengen.
Du hörst die Tür aufgehen, dann die Stimme der Krankenschwester, die dem Neuankömmling versichert, dass dein Auge geöffnet war und du versucht hast, zu sprechen. Eine leicht
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