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Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Titel: Rache verjährt nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Rasierspiegel in der Hand.
    Sie hält ihn dir vors Gesicht.
    Du blickst hinein, und deine beiden Ichs vereinen sich in einer Erinnerung daran, wie du mal ausgesehen hast.
    Du warst nie im klassischen Sinne gut aussehend, eher der rau-markante Naturbursche.
    Rau-markant trifft es nun wirklich nicht mehr. Du siehst aus, als hätte sich ein Betrunkener mit einer Kettensäge an dir ausgetobt.
    Wo einmal dein rechtes Auge war, ist ein Hohlraum, in dem ein Golfball verschwinden würde.
    Aus deinem linken Auge sickert irgendeine Flüssigkeit.
    Du merkst, dass du anfängst zu weinen.
    Du sagst: »Verpisst euch!«
    Und es spricht für Schwester Jane und Dr. Jekyll, dass sie sich in der Tat verpissen.
2
    Wie sich herausstellt, hast du neun Monate im Koma gelegen.
    In den folgenden neun siehst du das mehr und mehr als einen Zustand der Gnade.
    Ein Gutes hat es jedenfalls. Du hast einen weiteren miesen Winter glatt verschlafen.
    Deine Erinnerungen sind ebenso zerstückelt wie dein Körper. Du kannst dich kaum an den Unfall erinnern, aber irgendwer muss ihn dir detailliert geschildert haben, denn später weißt du genau, was passiert ist.
    Offenbar hattest du ein Riesenpech.
    Normalerweise bewegt sich der Verkehr in Londons Stadtmitte im Schritttempo. Dann und wann jedoch tut sich unvermittelt eine Lücke auf, plötzlich freie Straßenabschnitte, die bis zu hundert Meter lang sein können. Die meisten Fahrer reagieren darauf, indem sie aufs Gas treten, um möglichst schnell wieder zum Stauende aufzuschließen.
    In genau so eine Lücke warst du hineingerannt. Der Bus hatte fast dreißig Meilen die Stunde drauf. Du wurdest schräg durch die Luft geschleudert und pralltest auf die Kühlerhaube eines entgegenkommenden Range Rovers, dessen tolle Beschleunigung ihn auf fast sechzig Meilen gebracht hatte. Von dort flogst du auf einen Tisch, der vor einem Café auf dem Bürgersteig stand, und von dort wiederum durch die Fensterscheibe des Cafés.
    Zu dem Zeitpunkt war dein Körper dann so übel zugerichtet, dass jemand, erst als du schon im Rettungswagen lagst, den Kaffeelöffel bemerkte, der aus deinem rechten Auge ragte.
    Du hattest beide Beine gebrochen, das linke mehrfach. Außerdem gebrochen waren der linke Arm, das Schlüsselbein, das Becken und die meisten Rippen. Du hattest ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und einen Schädelbruch. Und die Hälfte deiner rechten Hand hattest du irgendwo in dem Café liegen gelassen.
    Was deine inneren Organe betrifft, so gewinnst du den Eindruck, dass die Mediziner bloß die Daumen drückten und hofften.
    Obwohl das offenbar keine sonderlich große Rolle spielte. Bis du das Auge aufschlugst, lautete die beste Prognose, dass man dich früher oder später würde abschalten müssen.
    Anfänglich ist dein Zeitbegriff fast genauso wenig vorhanden wie während deines Komas. Du existierst in einem Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen, und der Schmerz der Behandlung und der Schmerz der Träume fließen ununterscheidbar ineinander. In deinen kurzen klaren Intervallen versuchst du, dich mit deinem körperlichen Zustand abzufinden. Du bist total auf dich selbst konzentriert, deine mentalen Fähigkeiten sind derart brüchig, dass du Informationen als leuchtende Blitze registrierst und es dir schier unmöglich ist, zwischen Erinnerung und Albtraum zu unterscheiden. Also machst du das, was ein Nicht-Computerfreak macht, wenn der Computer anfängt zu spinnen: Du schaltest ab und hoffst, dass er sich selbst repariert haben wird, wenn du wieder einschaltest.
    Doch obwohl du nicht das Gefühl hast, Fortschritte zu machen, muss es wohl doch gewisse Fortschritte geben, denn in einem der Intervalle geistiger Klarheit bist du dir auf einmal sicher, eine Frau und Familie zu haben.
    Aber es kommt dich niemand besuchen. Dein Zimmer ist kein Meer von Karten mit Genesungswünschen, du bekommst keine Blumensträuße oder Schampusflaschen, um deine Rückkehr ins Leben zu feiern. Vielleicht sacken die Schwestern alles ein , ist dein letzter klarer Gedanke, ehe du wieder ins Niemandsland davontreibst.
    Als du das nächste Mal aufwachst, hast du einen Besucher. Oder eine Vision.
    Er steht am Fußende des Bettes, ein fleischiger kleiner Mann in einem Hawaiihemd mit der Art von Muster, mit dem man nach dem Genuss eines verdorbenen Hähnchen-Tikka die Wand verunziert. Du meinst, sein von der Sonne gerötetes Gesicht wiederzuerkennen, aber dir fällt kein Name dazu ein.
    Er sagt nichts, steht einfach nur da und sieht dich

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