Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
Angeblich war er auch für die breite Masse von solchem Interesse, dass eine überregionale Zeitung ihr ein stattliches Honorar für den Abdruck angeboten hatte, aber sie hatte abgelehnt, hauptsächlich, weil sie einige wichtige Passagen kürzen wollte, aber auch, weil ihr die anfängliche Freude über das Angebot im Rückblick wie ein Schritt weg von einer betrachtenden Objektivität und hin zur Befindlichkeit von Athleten beim Wettkampf vorkam.
Jetzt jedoch, als sie Haddas Bericht zum zweiten Mal las, verstand sie endlich den Impuls, die Faust in die Luft zu recken und lauthals YES! zu schreien.
Das war der Riss im Damm, der zu einer Bresche in dem gewaltigen Schutzwall führen konnte … sollte … könnte … musste , den er um seine Taten herum errichtet hatte.
Wieder einmal hatte er die erzählerische Form geändert, diesmal subtiler. Er schrieb erneut in der ersten Person Präteritum, aber jetzt richtete sich der Bericht direkt und explizit an sie selbst. Diese Darstellung rückte sehr nahe an die eine Hälfte eines Dialoges heran.
Und das abschließende Eingeständnis, dass er seine Tochter und seinen Vater im Stich gelassen hatte, ohne dafür irgendwelche mildernden Umstände oder äußere Faktoren anzuführen, war geradezu monumental. Selbst das zynisch hingeknurrte Wollen Sie das hören? … Dann bitte sehr, Mädchen! war bedeutsam. Es zeigte, dass er ihre Beziehung als eine zwischen Patient und Therapeutin anerkannte und, wenn auch zögernd und widerwillig, akzeptierte.
Natürlich verdrängte er nach wie vor … was auch immer man mir sonst angehängt haben mag … aber je aggressiver er wurde, desto mehr verdeutlichte das seinen inneren Aufruhr, weil er spürte, wie seine Abwehr ins Wanken geriet.
Das war nicht überraschend. Alle Beweise deuteten darauf hin, dass er eine Vorliebe für Mädchen im Frühstadium der Pubertät hatte. Er gab den Ulphingstones die Schuld an der Verbannung seiner Tochter ins Internat, aber aus seiner Perspektive war sie dadurch in der gefährlichen Phase ihrer Entwicklung gut zwei Drittel des Jahres vor ihm in Sicherheit gewesen. Und seine Klage, dass er während ihrer Schulferien so häufig geschäftlich verreisen musste, passte perfekt ins Muster. Er wusste von seiner Veranlagung und traute sich selbst nicht, wenn seine junge Tochter in der Nähe war, so schützte er sie und sich selbst, indem er räumlich möglichst weit zu ihr auf Distanz ging.
Er gestand also nicht nur seine Schuld ein, sie vernachlässigt zu haben, sondern die weit größere Schuld, die dazu geführt hatte!
Jetzt war der Moment gekommen, an dem sie nachhaken musste – aber äußerst behutsam. Bei einer Hetzjagd ist der gefährlichste Zeitpunkt der, in dem das Wild sich zur Verteidigung stellt. Daher bereitete sie sich sogar noch sorgfältiger als sonst auf die nächste Sitzung vor. Doch als es soweit war, wurde sie enttäuscht.
Er weigerte sich, sie zu sehen.
Sie konnte nichts dagegen tun.
Die Sitzungen waren freiwillig. Es hatte keinen Sinn, mit einem Häftling zu arbeiten, der unter Protest zu ihr geführt wurde.
In der Woche darauf passierte dasselbe.
Sie nahm an, er bedauerte, ihr so weit entgegengekommen zu sein. Er hatte das Gefühl, zu viel preisgegeben, sich ihr ausgeliefert zu haben.
Und vielleicht ängstigte ihn die Vorstellung, was noch kommen würde. Das war gut. Aber nur, wenn sie irgendwie Zugang zu ihm finden konnte.
Auch in der dritten Woche kam er nicht. Aber Officer Lindale, einer der wenigen, bei denen sie nicht automatisch davon ausging, dass sie alles an Chief Officer Proctor meldeten, nutzte einen Moment, den er mit ihr allein war, um zu sagen: »Hadda hat mich gebeten, Ihnen das zu geben, Miss.«
Er reichte ihr ein Schulheft.
Sie nahm es und warf einen kurzen Blick hinein.
»Haben Sie das hier gelesen?«, fragte sie.
»Hab’s überflogen, Miss. Für den Fall, dass es irgendwie, Sie wissen schon, anstößig ist oder so.«
Und was hättest du gemacht, wenn es das deiner Meinung nach gewesen wäre?, fragte sie sich.
Aber sie wusste, dass Hadda sich bestimmt für Lindale als Überbringer entschieden hatte, weil auch er ihm vertraute, deshalb sagte sie nur: »Vielen Dank.«
Sie konnte nicht abwarten, bis sie zu Hause war. Sobald sie in ihrem Auto saß, nahm sie das Heft heraus und fing an zu lesen.
Wolf
1
Sehr geehrte Dr. Ozigbo, ich werde mich nicht wieder mit Ihnen treffen, es sei denn, die schleppen mich mit Gewalt zu Ihnen. Zuerst wollte ich einfach nicht
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