Rache
seinen Sitz und holte den in ein Handtuch eingewickelten Revolver hervor. Er nahm ihn in die rechte Hand und versteckte sie in seinem halb geöffneten Hemd, bevor auch er aus dem Wagen stieg.
Jeff schlug die Tür für ihn zu.
Pete schaute sich um. Niemand war zu sehen.
Sherry wartete bereits vor dem Wagen. Sie trug ein rotes Hawaiihemd, das Petes Eltern ihm letztes Jahr aus Maui mitgebracht hatten. Er hatte es erst einmal angehabt, denn obwohl er den leichten, glatten Stoff gerne mochte, war es mit seinen vielen Blumen einfach zu farbenprächtig für seinen Geschmack.
An Sherry sah es fantastisch aus.
»Jeff«, sagte sie, »sieh doch mal nach, ob die Haustür verschlossen ist. Aber geh nicht rein, wenn sie offen ist, sondern komm zu uns zurück.«
»Alles klar«, sagte Jeff und rannte los.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, als ob sie nicht da wären«, sagte Sherry zu Pete.
Hoffentlich, dachte Pete, aber er sagte: »Ich auch.«
»Sie fahren praktisch jeden Samstagnachmittag wohin. Mom und Dad hassen es, am Wochenende im Haus zu hocken.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Aber Brenda bleibt gern zu Hause. Das ist das Problem.«
Jeff kam zurückgerannt. »Die Tür ist abgeschlossen«, berichtete er.
Sherry schien erleichtert. Sie nickte knapp und sagte: »Dann gehen wir jetzt mal zur Hintertür.«
Pete und Jeff folgten ihr bis zur Gartentür, wo sie durch die Gitterstäbe nach dem Riegel griff, aber gleich darauf die Hand mit einem leisen Stöhnen wieder sinken ließ.
»Lass mich das machen«, sagte Pete.
»Nein, geht schon«, erwiderte Sherry und öffnete den Riegel mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Nachdem sie alle im Garten waren, machte Jeff das Tor leise wieder zu. Sherry führte sie um das Haus herum.
Links von ihnen befand sich ein Holzzaun, hinter dem Musik zu hören war, die offenbar aus dem Nachbarhaus kam. Sie klang wie etwas von Enya, hätte aber auch der Soundtrack von Titanic sein können. Aus dem Haus von Sherrys Familie kamen keine Geräusche.
Großer Gott, sind die da drinnen am Ende alle tot?
Vermutlich ist überhaupt niemand zu Hause, dachte Pete, aber dann sah er vor seinem geistigen Auge, wie sie drinnen die Leichen fanden und Sherry in Tränen ausbrach und sich ihm in die Arme warf. Fast glaubte er, ihr heißes, nasses Gesicht an seiner Wange und ihren von Weinkrämpfen geschüttelten Körper spüren zu können.
Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?, dachte er. Soll etwa Toby ihre Familie abschlachten, damit sie sich dir in die Arme wirft?
Er schüttelte den Kopf.
»Was ist denn?«, flüsterte Jeff.
»Nichts.«
Und wenn mein Wunsch nun in Erfüllung geht?
Sei kein Idiot, sagte er sich. Man kann sich wünschen, was man will, und trotzdem muss es nicht so kommen …
Und außerdem wünsche ich mir, dass es nicht so ist. Falls mir irgendwer da droben zuhört: Ich wünsche mir, dass sie nicht tot sind. Kapiert?
Und wenn sie es mich nicht zurücknehmen lassen?
Unfug.
»Meine Fresse«, sagte Jeff.
Pete hob den Kopf und sah, dass an der hinteren Haustür eine Glasscheibe eingeschlagen war. Urplötzlich kam es ihm so vor, als ob eine eiskalte Hand sein Herz umklammert hielte.
Was regst du dich so auf? Wir wissen doch, dass er im Haus war. Und irgendwie muss er ja hineingekommen sein. Also beruhige dich.
Sherry humpelte auf die Tür zu.
Und wenn er immer noch drinnen ist?
»Warte!«, sagte Pete lauter, als er beabsichtigt hatte.
Sie blieb stehen und schaute über die Schulter nach hinten zu ihm.
»Ich gehe als Erster hinein.«
Sherry nickte.
»Und ich sichere nach hinten«, flüsterte Jeff.
Pete zog die Hand mit dem Revolver aus dem Hemd. Die Waffe gehörte zu seinem wertvollsten Besitz. Sein Vater, dem sie offiziell noch gehörte, hatte sie Pete zu seinem dreizehnten Geburtstag geschenkt. Du bist sehr vernünftig für dein Alter, Pete, hatte Dad ihm damals gesagt. Dieser Revolver gehört jetzt dir. Lege ihn in deine Nachttischschublade, damit du dich im Notfall verteidigen kannst. Aber gib Acht, damit du nicht aus Versehen Mom oder mich erschießt.
Es war ein Ruger Single Six, ein Revolver im Western-Stil mit einer sechsschüssigen Trommel. Als Zweiundzwanziger war er kleinkalibriger als Sherrys Achtunddrei ßiger, die Toby höchstwahrscheinlich in seinen Besitz gebracht hatte. Obwohl Pete zu Hause rasch noch die normale Trommel gegen die Magnum-Trommel für Patronen mit verstärkter Ladung ausgetauscht hatte, besaß Toby immer noch die Waffe mit der größeren
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