Racheakt
Lund eröffnete die Runde wie gewöhnlich mit einer Einführung in die Thematik des Abends. »Schwarze Engel«, so stand es ihn der Einladung und gemeint waren damit Pfleger und Schwestern, die ihre zumeist wehrlosen Patienten ermordeten.
»Vielen Dank, dass Sie der Einladung so zahlreich Folge geleistet haben, obwohl wir den Termin vorverlegen mussten. Aber am Freitag sind sehr viele von Ihnen bei dem Annual Meeting in Berlin und es wäre doch schade gewesen. Wie dem auch sei. Morde in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen werden meist von Frauen begangen«, begann er mit schwankender Fistelstimme zu erklären. »Was aber nicht zwangsläufig bedeuten muss, Frauen neigten nun eher zu dieser Art von Serienmord. Tatsache ist, dass in den angesprochenen Berufsgruppen überwiegend weibliche Mitarbeiter anzutreffen sind.«
»Das Wesen der Frau prädestiniert sie geradezu für diese Pflegeberufe«, warf Dr. Jäger ein. »Das limbische System der Frau lässt sie in der Pflege der Hilfsbedürftigen aufgehen und wahrscheinlich hat sich schon in den Zeiten, in denen die Menschen noch in Höhlen lebten, die Frau um die Kranken und Schwachen gekümmert, während die Männer ihren Auftrag in der Nahrungsbeschaffung sahen.«
In dem einsetzenden Gemurmel, halb protestierend, halb zustimmend, setzte sich die Stimme von Frau Dr. Jung durch.
»Das stimmt. Pflege der Kranken und Siechen ist traditionell Aufgabe der Frau, während der Mann seine Karriere pflegt! Auch diese Art der Männer, die eher unappetitlichen Aufgaben an die Frau abzutreten – bei schlechter Entlohnung versteht sich – hat sich aus der Zeit der Höhlenmenschen bis in die Jetztzeit erhalten, nicht wahr Herr Kollege!«, schnappte sie und versuchte mühsam ihre Verärgerung unter Kontrolle zu bekommen. Es war aber auch zum aus der Haut fahren: die Männer und ihre Vorurteile!
»Das wirklich Dramatische an dieser Art des Mordens ist die unglaublich große Chance vollkommen unentdeckt zu bleiben und so eine hohe Zahl von Tötungen zu begehen, bevor es überhaupt auffällt«, Prof. Lund zog entschlossen die sachliche Ebene wieder ein.
»Während wir sonst schon ab zwei oder drei gleichartigen Tötungsdelikten von einer Mordserie sprechen, begehen diese Pflegekräfte in manchen Fällen bis zu zwanzig Morde ohne irgendeine Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Na, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie in Bereichen arbeiten, in denen der Tod eines Patienten nicht so ungewöhnlich ist«, Dr. Zimbalist wirkte gereizt. Vielleicht hatte er den Eindruck, sie regurgitierten heute nur Altbekanntes und er hätte seinen Abend auch sehr viel entspannender gestalten können, dachte Frau Dr. Jung.
»Die Motivlage ist in diesen Fällen recht ähnlich. Die Schwestern morden zum einen, weil sie das Leiden der Patienten verkürzen wollen, zum anderen, um sich besonders pflegeintensive oder schwierige und störrische Patienten vom Hals zu schaffen.«
»Was im Übrigen – verzeihen Sie Frau Kollegin – ein typisch weibliches Motiv ist«, grinste Dr. Jaeger provozierend.
Ein weiteres Mal sah sich Prof. Lund genötigt einzugreifen.
»In der Literatur findet sich bei weiblichen Serientätern in der Tat dieses oder ein entsprechendes Motiv. Frauen töten oft um eine Belastungssituation zu beenden – Kinder, die schreien oder nerven, anstrengende oder brutale Ehemänner und Lebenspartner oder eben undankbare und boshafte Pflegebedürftige. Sexuell motivierte Morde finden sich selten – mir ist überhaupt nur ein einziger Fall bekannt, in dem eine Frau Männer tötet um mit ihnen nach ihrem Tod Beischlaf herbeizuführen und mit ihnen zu kuscheln.«
Es entstand eine längere Pause.
Auch Prof. Lund starrte in Gedanken versunken auf sein mit Wein gefülltes Glas und schreckte förmlich auf, als Dr. Mütze das Wort ergriff.
»Gut – also ich muss nun ein Gutachten über einen Pfleger anfertigen, der im Zeitraum von drei Jahren siebzehn bis maximal vierundzwanzig seiner ihm anvertrauten Patienten getötet hat. Die genaue Zahl seiner Opfer steht noch nicht endgültig fest. Er gesteht immer wieder neue Tötungen, so werden es im Zuge der Vernehmungen immer mehr. An manche Fälle kann er sich nicht mehr erinnern – er glaubt aber Frau A oder Herrn B auch eine Spritze gegeben zu haben.«
»So einen Fall hatte ich vor ein paar Jahren auch. Eine Krankenschwester. Sie konnte sich nur mit Sicherheit an ihren ersten und ihren letzten Mord erinnern. An den ersten, weil es so unglaublich
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