Racheakt
durch und hoffte, dass ihre Stimme jetzt mitspielen würde und sagte:
»Der Fall Grabert, auf den hier angespielt wird, liegt völlig anders, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wie Sie alle wissen«, sie bemühte sich, das einsetzende Raunen zu übertönen. »Wie Sie alle wissen, habe ich das Prognosegutachten im Fall Grabert erstellt. Ich stehe zu all meinen getroffenen Aussagen. Er hat dieses Mädchen nicht getötet! Das wird auch die Polizei bald merken. Mehr gibt es dazu von meiner Seite nicht zu sagen!«
Allgemeines, protestierendes Gemurmel erfüllte den kleinen Raum. Eine Stimme aus dem Hintergrund rief: »Und wenn all die gefährlichen Wiederholungstäter ein Mal auf der Stirn trügen – ja das wäre wirklich gut! Da wäre eine Prognose kein Problem!«
An dieser Stelle ergriff Prof. Lund geistesgegenwärtig das Wort um einen Niveauverlust des Gesprächs auf Stammtischhöhe zu verhindern, und seine Diskussionsrunde wieder zu ihrem abstrakten Thema zurückzuführen.
»Von wem sollen die Straftäter in dieser Art Vollzug bewacht werden? Dies scheint mir eine Frage von zentraler Bedeutung zu sein«, warf er mit lauter, fester Stimme ein.
Dr. Zimbalist, der sich nie an Gesprächen über die fachlichen Kompetenzen seiner Mitstreiter beteiligte, weil er das für intrigant hielt, stellte fest: »Wenn wir Wärter einsetzen, wie es zurzeit in den Gefängnissen üblich ist, hat das therapeutische Personal nur relativ wenig Kontakt zu den Straftätern. Erfahrungsgemäß ergeben sich auch nach kürzester Zeit Streitigkeiten unter dem medizinischen und dem Vollzugspersonal über Kompetenzen und die Sinnhaftigkeit angeordneter Maßnahmen. Es kommt zum Beispiel vor, dass einer der Insassen einem Aufseher gegenüber aufsässig war und dieser nun eine »Erziehungsmaßnahme« gegen den Betroffenen verhängt, die der Psychiater für unangemessen und im Rahmen seiner Therapie für kontraindiziert hält. Und schon gibt es den heftigsten Streit. Das bleibt natürlich auch den Insassen nicht verborgen und sie versuchen, durchaus sehr erfolgreich, einen Keil zwischen die beiden personellen Abteilungen zu treiben und die Leute gegeneinander auszuspielen. Das führt nicht selten zu einer weiteren Steigerung des ohnehin schon hohen Aggressionspotenzials.«
»Also im Grunde stehen wir bei dieser neuen Vollzugseinrichtung vor den gleichen Problemen, die schon im jetzigen Maßregelvollzug nicht gelöst werden konnten«, stellte Frau Dr. Birnbaum trocken fest. »Wenn der Patient sich seinem Therapeuten anvertraut, gerät dieser unter gewaltigen Druck. Erzählt ihm ein Patient von Ausbruchsfantasien, muss der Therapeut dieses letztlich vertrauliche Wissen an die Vollzugsbeamten weitergeben, damit die sie Bewachung verstärken können. Natürlich empfindet der Patient diese Weitergabe der Information als eklatanten Vertrauensbruch und wird sich in Zukunft dem Therapeuten nicht mehr völlig öffnen. Damit wird die Therapie sinnlos. Ich persönlich würde nach einer solchen Erfahrung auch nicht mehr über meine innersten Bedürfnisse, Wünsche oder Träume sprechen, sondern nur noch oberflächlich talken, um dem Therapiedruck zu genügen und sorgfältig darauf achten, nichts mehr von mir preiszugeben.« In der Sicherheit nun alle Augen auf sich gezogen zu haben, fuhr sie sich affektiert mit aufdringlich rot lackierten Fingernägeln durch ihre sorgfältig geföhnten Haare. Dr. Helge Jung verzog angewidert das Gesicht. Wie konnte man nur so auf sein Äußeres fixiert sein! Ihr waren solche Oberflächlichkeiten jedenfalls gänzlich unwichtig, schließlich war es ja nicht das Styling, das einen Menschen ausmachte!
»Genau«, bestätigte Prof. Marburg. »Und umgekehrt ist der Vollzugsbeamte völlig überfordert, wenn sich einer der Insassen plötzlich mit vertraulichen Informationen an ihn wendet. Wie soll er auch reagieren, wenn der andere ihm aus heiterem Himmel erzählt, dass er das unglaubliche Gefühl sexueller Erregung nicht vergessen kann, das er spürte, als er die Leiche des kleinen Mädchens nach sexuellem Missbrauch zerstückelte und womöglich kannibalistisches Verhalten zeigte. Wie soll man auch mit solchen Dingen umgehen? Darauf werden die Leute vom Bewachungspersonal doch gar nicht vorbereitet«, stellte er fest.
»Gibt es verlässliche Erkenntnisse über die Rückfallquote im Regelvollzug versus Maßregelvollzug?«, wollte Dr. Höffner wissen.
»Bestimmt – aber die habe ich jetzt nicht vorliegen. Ich kümmere
Weitere Kostenlose Bücher