Racheakt
wichtige Dinge sprechen, gehe ins Kino, esse beim Italiener um die Ecke und weil ich gut zuhören kann, kommen die anderen manchmal mit ihren Problemen zu mir. Unter dem Strich ist der Preis, den ich für dieses Stück Freiheit bezahle, doch nicht zu hoch, oder?«
15
»Hallo, Helge!« Mit geschmeidigen, katzenartigen Bewegungen kam Frau Dr. Birnbaum auf ihre Kollegin zu und schloss sie in die Arme. Die Angesprochene wand sich unbehaglich in der Umklammerung der eleganten Psychiaterin und pustete einige der langen, schwarzen Haare beiseite, um dem Erstickungstod zu entgehen.
Körperliche Annäherungen waren Frau Dr. Helge Jung seit Langem verhasst und von Kollegen, die ihr auch noch von Herzen unsympathisch waren, war es ihr doppelt unangenehm. Den stechenden Schmerz an ihrem Oberkörper ignorierend, von dem sie wusste, dass er rein psychogener Natur war, schob sie die affektierte Kollegin etwas zurück um sich dann geschickt ihrem Griff zu entwinden.
»Hallo, Angela«, grüßte sie kühl zurück.
»Ach, mein Gott. Es tut mir ja so unendlich leid, wirklich«, fuhr Dr. Birnbaum fort und Frau Dr. Jung wich automatisch zwei Schritte zurück, da es so aussah, als wolle die andere sie empathisch gleich noch einmal – diesmal tröstend – in die Arme schließen.
Angela Birnbaum bedachte ihr Gegenüber mit einem mitleidsvollen Blick, der sie selbst wie ein waidwundes Reh aussehen ließ.
»Berufsrisiko«, stellte Dr. Jung nur trocken fest, fuhr sich mit ihren sehnigen Händen durch ihre nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählte Kurzhaarfrisur, strich sich über ihre weite, kuschelige Lieblingsfleecejacke, als forsche sie, ob die andere bei der Begrüßungsumarmung etwas Ekliges an ihr zurückgelassen habe.
Gerade als sie sich brüsk abwenden wollte, wurde sie ein weiteres Mal angesprochen.
»Guten Abend, Frau Kollegin. Wie schön, Sie hier zu sehen – trotz der für sie sicher sehr unangenehmen Begleitumstände.« Prof. Marburg schüttelte ihr warmherzig die Hand und nickte Dr. Birnbaum flüchtig zu.
Der sympathische, ältere Herr war so eine Art Nestor ihrer Gruppe, mit weißen Haaren, wachen Augen und bewundernswerter Sicherheit im Umgang mit seinen Patienten.
»Guten Abend Herr Professor«, antwortete die junge Kollegin und schenkte ihm ein Lächeln. Etwas, das sie nur sehr wenigen Menschen zukommen ließ.
»Ich hoffe, Sie nehmen sich die Angelegenheit nicht zu sehr zu Herzen. Das kann schließlich jedem von uns passieren, wissen Sie. Vor so etwas kann sich keiner schützen, der mit Menschen zu tun hat. Aber natürlich ist es für Sie im Augenblick sehr unangenehm.«
Er legte ihr väterlich die Hand auf den Unterarm und ihr gelang es mit größter Anstrengung ein heftiges Zusammenzucken zu verhindern.
»Ich glaube, die Polizei ist im Irrtum – nicht ich«, entgegnete sie selbstbewusst. »Es ist nur das immer gleiche Spiel: Einmal Sexualstraftäter – immer Sexualstraftäter.«
Der Professor warf ihr einen besorgten Blick zu.
»Es ist immer schlimm, wenn Täter wider Erwarten rückfällig werden. Und sogar wieder töten – obwohl wir ihnen etwas völlig anderes bescheinigt haben. Es ist eine schmerzvolle Erfahrung und das Gefühl der Schuld belastet den Gutachter noch über einen langen Zeitraum. Ich kenne Kollegen, die nach solch einer Entwicklung nie wieder ein Gutachten erstellt haben. Einer hat sogar seine Praxis aufgegeben und verdient sich seinen Lebensunterhalt durch Vorträge und Buchbeiträge zu abstrakten Fragestellungen. Letztendlich sollte diese Erfahrung zeigen, dass Sie nicht vorsichtig genug sein können – und es macht auf jeden Fall nicht den geringsten Sinn sich mit der Polizei herumzustreiten.«
»Herr Professor Marburg – ich bin nicht einfach renitent oder uneinsichtig – ich weiß, dass er es nicht getan hat!«
Geschickt führte der ältere Herr sie in eine ruhigere, entlegenere Ecke und nötigte sie in einer hohen Sitzgruppe Platz zu nehmen.
»Ich verstehe Sie schon. Wir alle müssen hier und da mal Tiefschläge einstecken. Sie waren seine Prognosegutachterin – aufgrund Ihres Gutachtens wurde der Maßregelvollzug außer Kraft gesetzt.« Er wühlte aus den Tiefen seiner Sakkotaschen eine Metallschachtel hervor, kämpfte einen Augenblick mit dem Verschluss, entnahm ihr dann eine dicke Zigarre, die er sich mit einem Ausdruck des Wohlbehagens ansteckte.
»Ja – ich habe das Prognosegutachten erstellt – und alles, was ich geschrieben habe, stimmt und gilt
Weitere Kostenlose Bücher