Racheakt
unverändert.« Dabei beugte Dr. Jung sich weit vor, fing die klugen Augen des Nestors ein und fixierte ihn. Sie sprach jetzt sehr eindringlich.
»Jeder kann dieses Verbrechen begangen haben. Die Zeitungen waren damals voll von Berichten über den Ablauf seiner Taten. Jeder, der ihn oder die Ermittlungsakten oder die Berichte kennt, könnte ihn imitiert haben. – Ich kenne ihn nun schon seit so vielen Jahren – glauben Sie mir, er hat seine Bilder im Kopf vergessen, er empfindet keine sexuelle Erregung mehr bei solch einem Anblick.«
»Woher wollen Sie das denn so genau wissen? – Sie sind doch bei Ihrer Beurteilung ganz auf seine Mitarbeit angewiesen! Was, wenn er Sie belogen hat? Noch ist es uns nicht möglich in die Seele des Menschen zu blicken – wir kriegen nur zusehen, was er uns sehen lassen will. Vergessen Sie das nicht, Frau Dr. Jung!« Prof. Marburg drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger.
»Er hat mich schon vor langer Zeit in seine geheimsten Empfindungen eingeweiht – ich weiß um das, was ihn getrieben hat. Und ich weiß, dass es vorbei ist – längst vorbei.«
»Die Polizei ist da allerdings völlig anderer Auffassung«, stellte Prof. Marburg klar und fügte hinzu: »Sie müssen jetzt nicht Ihr Gutachten mit Zähnen und Klauen verteidigen. Das macht auch in der Öffentlichkeit keinen besonders guten Eindruck. Besser Sie wirken zerknirscht und räumen ein, dass Sie sich in manchem getäuscht haben.«
»Öffentlichkeit?« Helge Jung war plötzlich alarmiert.
Sie spürte, wie ihr Rücken in Sekundenschnelle schweißfeucht wurde. Wenn es etwas gab, das ihr annähernd so verhasst war wie körperliche Berührungen, dann war es im Rampenlicht zu stehen.
»Aber natürlich! Gestern Abend wurde Günter Grabert verhaftet und morgen früh kennt die Presse den Namen der Prognosegutachterin. Sie werden Ihr Haus belagern, Ihnen vor der Praxis auflauern – nur um einen Kommentar, ein Foto oder gar ein Interview zu kriegen.«
»Herr Professor Marburg – ich kann auch der Presse nur mitteilen, dass Günter Grabert unschuldig ist, und mit diesem abscheulichen Verbrechen nichts zu tun hat.«
Der Professor sog nun hörbar die Luft ein. Jetzt war er endgültig genervt. Wie konnte diese junge Frau nur so verbohrt sein!
»Er unterzieht sich einer Androcur-Therapie. Schon seit Jahren«, erklärte sie schnell, um einer heftigen Entgegnung des erfahrenen Kollegen zuvor zu kommen.
»So ist das also. Spritze oder Tabletten?« Nachdenklich sah der Professor die Kollegin an.
»Spritze. Er bekommt sie vom Hausarzt.«
»Aha, er bekommt also Androcur zur Triebdämpfung. Interessant. Aber das ist natürlich überhaupt kein Beweis für seine Unschuld – es ist nur ein Beweis für seine Bereitschaft in Zukunft zu versuchen unschuldig zu sein.«
»Es gibt Studien, die belegen, dass die Triebdämpfung so groß sein kann, dass der Patient tatsächlich frei davon ist. Er kommt zu mir zur Therapie – auch schon seit Jahren. Ich sehe, was das Medikament bei ihm bewirkt – ich kenne seine finsterste Seite.«
»Aber Sie wissen nicht, welche Seiten er verbirgt, nicht wahr Frau Kollegin?«
Bevor sie darauf antworten konnte, lud sie ein Kollege ein, ihn zur Gesprächsrunde im Nebenzimmer zu begleiten.
Einmal in der Woche trafen sich forensische Psychologen und Prognosegutachter hier in diesem schönen Spreewaldgasthof ›Zum Leineweber‹ in Burg zu ihrem »Prognose – Stammtisch«. Seit den gegenseitigen Beschimpfungen von Gutachtern in den Medien im Fall Schmoekel war diese Gesprächsrunde ins Leben gerufen worden. Sie sollte als Forum dienen, als Interessenvertretung, als Chance zum gegenseitigen Kennen lernen und nicht zuletzt dazu genutzt werden sich gegenseitig zu unterstützen. Die Atmosphäre des Gasthofs war auf gehobenem Niveau ländlich, das Personal aufmerksam und freundlich und der Wintergarten angenehm eingeheizt und so konnten sich die Teilnehmer hier relativ entspannt austauschen.
»Tja, ich begrüße Sie alle herzlich zu unserem heutigen Diskussionsabend. Thema, wie schriftlich angekündigt, ist die neue Verordnung der Regierung für den Umgang mit Sexualstraftätern, insbesondere mit Serientätern. Ich denke wir sammeln zunächst Meinungen dazu und steigen dann in die Diskussion ein«, moderierte Prof. Lund wie immer etwas fahrig. Mit seiner Fistelstimme und dem wallenden weißen Haar wirkte er wie die Karikatur eines Freudianers mit einem Hauch Einstein.
Scheiße, dachte Dr. Jung, da habe
Weitere Kostenlose Bücher