Rachedurst
stand ihr plötzlich vor Augen. Sie hätte bei diesem Gedanken fast losgekichert, war dafür aber zu angespannt.
***
Eine unheilvolle und doch unsichtbare Wolke schien im Esszimmer und im ganzen Haus zu hängen, eine Wolke â so stellte sie es sich vor â die sich aus all den Gefühlen der Vergangenheit zusammensetzte. Das ganze Haus, fand sie, sollte mal kräftig durchgelüftet werden.
Die Einrichtung war offenkundig seit dem Bau des Hauses nicht verändert, sondern nur um immer weitere Möbel ergänzt worden. Die Wände und Tapeten waren dunkel, die Bordüren reich verziert, die Gesimse handgeschnitzt, und jede Tür war aufwändig maÃgefertigt. Alte Wagenrad-Kronleuchter hingen an groben Ketten von den hohen Decken. Die Küche war so groÃ, dass die alten gusseisernen Kochherde nicht entfernt werden mussten, als moderne Ãfen an ihre Stelle traten. Ess- und Wohnzimmer waren muffig und voller alter Gemälde von Wyoming und schottischen Landschaften. Sheridan war im Wohnzimmer wie angewurzelt vor einer Wand stehen geblieben, an der unzählige gerahmte SchwarzweiÃfotos hingen.
»Das ist die Wand mit dem Vermächtnis der Scarletts, von dem ich dir erzählte«, hatte Julie gesagt und auf die Bilder gezeigt. »Hier hängen Fotos all meiner Verwandten.«
Sheridan hatte ihre Freundin angesehen und ein Lächeln erwartet, als sie vom »Vermächtnis der Scarletts« sprach, doch Julie war ernster, als Sheridan sie je erlebt hatte. Sie schien dazu erzogen worden zu sein, vor dieser Wand feierlich zu werden â wie eine gute Katholikin sich bekreuzigt, wenn sie an einer Kathedrale vorbeikommt.
Julie wies auf die Fotos ihrer UrurgroÃeltern, die die Ranch gegründet hatten, dann auf ihre UrgroÃeltern. Aus der Sammlung stach ein Porträt von Opal Scarlett als Mädchen hervor â das Bild war mit leichten Farbtönen versehen, um ihre Wangen zu röten und ihre blauen Augen zu betonen. Schon damals, fand Sheridan, hatte sie ausgesehen, als wäre sie hart im Nehmen. Trotz der blauen Tinte waren ihre Augen stechend und hart und funkelten wie Kristalleinschlüsse im Gestein. Allerdings lächelte Opal auf dem Foto â ein Lächeln, das ebenso rätselhaft wie entwaffnend wirkte. Sheridan war Julies GroÃmutter nur wenige Male begegnet und hatte dieses Lächeln dabei nie an ihr gesehen.
Die Highschool-Fotos von Arlen, Hank und Wyatt fand sie faszinierend. Es war aufschlussreich, die drei als fast so jung wie sie selbst, also als Altersgenossen wahrzunehmen, nicht als reife Männer. Arlen hatte schon damals ausgesehen wie heute: attraktiv, selbstbewusst, eingebildet und etwas verschlagen. Hank trug einen Cowboyhut im Stil der Fünfzigerjahre mit an den Seiten hochgebogener Krempe; seine Miene war offen, gesetzt, ernst, düster. Es war das Gesicht eines Jungen, der entschlossen schien, Ansprüche anzumelden, eines harten Arbeiters, der sich nicht aufhalten lieÃ. Wyatt sah dick und weich aus, beflissen, es jedem recht zu machen, stolz auf einen Schnurrbart, der keinen Anlass zu Stolz bot. Irgendetwas an seinem Gesicht wirkte verletzt, als hätte er bereits groÃe Enttäuschungen erlebt. Er ist sicher keiner, dachte Sheridan, den man beim Sport als Ersten für die eigene Mannschaft auswählt. Arlen dagegen schon, sofern der Wettstreit mit Worten ausgefochten werden würde. Und Hank wäre erste Wahl, falls ein Kampf ausbrechen könnte.
»Dein Dad sah cool aus«, sagte sie.
Julie nickte. »Er kann cool sein.«
»Aber du lebst hier bei deinem Onkel.«
»Ich bin umgezogen, um bei meiner GroÃmutter und meiner Mom zu wohnen.« Julie zuckte die Achseln. »Aber meine Oma, na, du weiÃt ja ⦠Sie ist verschwunden.«
***
Als sie Julie an dem massiven Tisch gegenübersaÃ, an dem einst zwanzig »bärenstarke Rancharbeiter« gegessen hatten, wie Arlen es formulierte, fühlte Sheridan sich wie in einem Palast und in Gesellschaft von Menschen, die einen verblichenen Ruhm teilten, an dem sie keinen Anteil hatte.
Sie bemühte sich, Arlen und Wyatt beim Essen nicht anzustarren, beobachtete sie aber genau. Wyatt machte sich wie ein ausgehungertes Tier über seine Mahlzeit her und stopfte sich das Essen mit mechanischer Gier gabelweise in den Mund, als könnte er es nicht erwarten, seinen Teller zu leeren und sich wieder zu verziehen. Arlen aà geruhsam und
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