Rachedurst
kultiviert und füllte sein Weinglas auf, noch bevor es leer war.
Julie schien die beiden nicht wahrzunehmen, stocherte auf ihrem Teller herum, wirkte verärgert und warf Sheridan immer wieder verstohlene Blicke zu. Sheridan hatte irgendwie das Gefühl, ihre Freundin zu enttäuschen.
Sie fühlte sich unbehaglich. Und das lag nicht am Essen, denn das war sehr gut: Steak, Salat, frische, warme Brötchen mit Butter, Kartoffelpüree mit Knoblauch und als Nachtisch Apfelauflauf. Onkel Arlen war ein groÃartiger Koch, und er lieà es sich nicht nehmen, das mehrmals selbst zu betonen.
SchlieÃlich kam Julies Mutter Doris mit einem Teller Kekse, die die Mädchen gebacken hatten, aus der Küche. Als sie Sheridan einige servierte, beugte Doris sich zu ihr und sagte so leise, dass die anderen es nicht hörten: »In diesem Haus habe ich mich zuerst auch gegruselt. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran.«
Sheridan nickte, sah ihr aber nicht in die Augen.
***
Ehe sie sich einen Film auf DVD ansahen und ins Bett gingen, gab Onkel Arlen am prasselnden Kaminfeuer Geschichten zum Besten. Er war ein guter Erzähler, wusste die Worte zu setzen und den Tonfall geschickt zu wählen und sah Sheridan immer wieder in die Augen, wenn er an einen wichtigen Punkt der Handlung kam, als wäre es das Wichtigste auf Erden, dass sie ihm zuhörte, und zwar jetzt.
Sheridan saà neben Julie auf einem Bärenfell zu Arlens FüÃen. Wie ihre Freundin sich auf das Fell hatte fallen lassen und die Aufmerksamkeit ihrem Onkel zuwandte, deutete darauf hin, dass er sehr oft den Erzähler gab.
»Erzähl uns von Opa Homer«, bat ihn Julie, und er erfüllte den Wunsch und berichtete, wie Homer sich plötzlich einem Bären â »ihr sitzt auf ihm« â gegenübergesehen hatte; wie er gegen die Indianer gekämpft hatte; wie er den Rancharbeitern (damals hatten Dutzende von Cowboys auf dem Anwesen gelebt) Paroli geboten und ihnen gesagt hatte, sie sollten ihrer Wege ziehen oder an die Arbeit gehen, als sie gedroht hatten, ihren Job hinzuwerfen, wenn sie nicht besser bezahlt und verpflegt würden.
Arlens Erzählungen zufolge schien die Scarlett-Familie an allem beteiligt gewesen zu sein, was in diesem Tal und im Twelve Sleep County, Wyoming, jemals geschehen war. Während überhebliche Neuankömmlinge sich übernommen hatten und gescheitert waren oder panisch die Flucht angetreten hatten, waren die Scarletts die stabilisierende Kraft gewesen. Wenn die Bewohner der Gegend wegen einer Dürre, einem Flächenbrand oder Ãberschwemmungen »wie kopflose Hühner herumflatterten« oder jammerten, die Welt habe Saddlestring vergessen, war es die Aufgabe der Scarletts, für die entsprechenden Rahmenbedingungen zu sorgen und Erfahrung und Lebensweisheit zu vermitteln. Sheridan merkte, dass Julie bei Arlens Worten dauernd zu ihr rübersah, als wollte sie sagen: »Begreifst du dein Glück, dass ich all dies mit dir teile?«
Arlen nannte seine Erzählungen mündlich tradierte Geschichte; er wiederhole die Ereignisse Julie gegenüber im Laufe der Jahre, damit sie diese Tradition fortführe, wenn sie älter sei. »Schade, dass in Familien keine Geschichten mehr von Generation zu Generation weitergereicht werden«, sagte er, schüttelte den Kopf und setzte hinzu: »Es kann natürlich sein, dass es da nicht viel zu berichten gibt.«
Das traf Sheridan, weil sie gerade überlegt hatte, wie wenig sie über ihre Eltern wusste â woher sie kamen, woher also auch sie selbst kam. Na ja, es gab Oma Missy, aber die erinnerte sie eher an einige der beliebten Mädchen an ihrer Schule. Missy spielte eine Zeit lang mal diese, mal jene Rolle, hatte darüber hinaus aber wenig Interessantes zu bieten. Sheridan erinnerte sich, dass ihre GroÃmutter einst die vornehme Frau eines in die Politik gewechselten Projektentwicklers aus Arizona gewesen war, den die Picketts nie gesehen hatten. Zu dieser Zeit hatte sie ihre GroÃmutter überhaupt erst kennengelernt, und die hatte darauf bestanden, von ihr und Lucy »Tante« genannt zu werden. Dann war Missy nach Wyoming gezogen und lebte nun auf der riesigen Longbreak Ranch. Sie hatte es einigermaÃen weit gebracht, aber Sheridan hatte keine Ahnung von ihrer Herkunft und Vergangenheit.
Und über ihren Vater wusste sie auch nicht viel. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie darüber eigentlich nie
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